Pressespiegel Nov./Dez. 2012

2012-12-18 Generalanzeiger Bonn

Genehmigung von 1947 aufgetaucht
Stadt toleriert die Gräber am Ako

 ham

Bad Godesberg. Die Stadt Bonn wird gegen das Aloisiuskolleg (Ako) kein Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen der über Jahrzehnte auf dem Gelände vorgenommenen Beerdigungen einleiten. Im September hatte sie gegenüber einem Anwalt von Missbrauchsopfern erklärt, dass eine Genehmigung für Bestattungen nicht vorliege.

Mittlerweile habe sich eine 1947 erteilte Genehmigung gefunden, wird der Kanzlei nun vom Amt für Stadtgrün mitgeteilt. Selbst wenn die in jüngster Zeit vorgenommenen Beerdigungen nach Inkrafttreten des neuen Bestattungsgesetzes rechtswidrig gewesen seien, sei eine eventuelle Ordnungswidrigkeit verjährt.

Zudem erführen Totenwürde und Totenruhe in der Rechtsordnung eine besondere Würdigung. Insofern werde der Gedanke an eine Umbettung nicht weiter verfolgt, so das Amt für Stadtgrün. Die Geschäftsführung der Aloisius gGmbH habe mitgeteilt, die Begräbnisstätte aufgrund einer Entscheidung der Ordensleitung in München nicht weiter zu betreiben. Dem GA sagte Geschäftsführer und Rektor Pater Johannes Siebner, er sei froh und dankbar, dass die Totenruhe gewahrt bleibe. Auf dem Gelände war noch 2010 der schwer belastete Ex-Schulleiter Pater Ludger Stüper beigesetzt worden.

2012-12-16  Tag des Herrn

Thema: Missbrauchsdebatte

„Ich stehe auf der Täterseite“

Pater Klaus Mertes über seine nicht bequemen Erfahrungen in der Missbrauchsdebatte

Von Matthias Holluba

Dresden. Mit einem Brief an ehemalige Schüler des Berliner Jesuiten-gymnasiums Canisius-Kolleg hat dessen damaliger Rektor, P. Klaus Mertes, vor drei Jahren die Missbrauchdebatte in der katholischen Kirche in Deutschland wesentlich angestoßen.
In Dresden sprach er jetzt über seine Erfahrungen.

 

Ein Brief von P. Klaus Mertes war im Januar 2010 ein wesentlicher Auslöser
der Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche in Deutschland. Foto: kna

Als P. Klaus Mertes im Januar 2010 einen Brief an die ehemaligen Schüler des Berliner Jesuiten-gymnasiums Canisius-Kolleg schrieb, ahnte er nicht, was er damit auslösen würde. Mertes, damals Rektor der Einrichtung, bat die Ehemaligen, die Opfer sexuellen Missbrauchs an der Schule geworden sind, sich zu melden. Seit er 1995 als Lehrer an das Gymnasium kam, hatte er immer wieder gerüchteweise entsprechende Andeutungen gehört. Dann kamen vor drei Jahren drei Ehemalige zu ihm und erzählten ihre Leidensgeschichte. „Ich glaube Ihnen“, entgegnete P. Mertes und signalisierte in dem dann folgenden Brief allen anderen Opfern: „Ich bin bereit, Ihre Geschichte zu hören.“

Was folgte, war der Beginn der Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche in Deutschland. Einer der Empfänger gab den Brief einer Berliner Tageszeitung, die ihn und damit das Thema öffentlich machte. Es meldeten sich zahlreiche Opfer – nicht nur im Canisius-Kolleg, sondern auch in anderen Einrichtungen. „Dass es an unserer Schule zu sexuellem Missbrauch gekom-men war, war mir klar“, sagt P. Mertes. Schockierend war für ihn allerdings, dass es im Falle eines der Patres 100 Opfer gab. Mit einer so großen Zahl hatte er nicht gerechnet. Sofort stellte sich ihm die Frage, wie so etwas in einer Institution passieren kann, ohne dass es jemand merkt oder entsprechend darauf reagiert, denn: „Anzeichen hat es damals schon gegeben. Sie wurden nicht gehört oder der Täterschutz ging über den Opferschutz“.

Inzwischen sind drei Jahre vergangen.

Für die Jesuiten ist es Zeit, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. In diesen Tagen erschien sie in Buchform unter dem Titel „Unheilige Macht“ (siehe unten). Über die Erfahrungen, die er selbst in dieser Zeit gemacht hat, sprach P. Mertes, der inzwischen das Kolleg St. Blasien im Schwarzwald leitet, dieser Tage in Dresden.

Die erste Erfahrung, die er nennt, ist die schmerzhafte Erkenntnis: „Ich stehe auf der Täterseite – zwar nicht im Sinne eines Einzeltäters, aber durch das Mittun der Institution stehe ich in der Tradition derer, die damals versagt haben.“ Diese Erkenntnis sei in der gesamten Missbrauchsdebatte für ihn sehr wesentlich, denn so könnten die Opfer in der Institution als Vertreter der Täterseite ein Gegenüber finden. Das sei für die Institution schmerzlich – nicht nur für den Rektor, sondern für alle, die ihr verbunden sind: Lehrer, Schüler, Eltern … An der falschen Opferrolle, in die manche Vertreter der katholischen Kirche sich nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle zurückgezogen haben, übt P. Mertes deshalb deutliche Kritik. „Manche Kirchenvertreter jammern über die eigenen Schmerzen und über das, was die Täter der Kirche und ihnen als ihre Vertreter angetan haben.“ Bezeichnend dafür sei die Haßsprache, die in Teilen der Kirche gegenüber denen eingezogen sei, die auf der dunklen Seite stehen, wenn etwa vom Ausmerzen der Täter die Rede ist. Sicher hätten die Täter der Institution geschadet, aber die Institution war auch Täter durch ihr Unterlassen.

Dass die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zu Spaltungen in der Institution führt, liegt für P. Mertes auf der Hand: Alle Glieder in der Kirche sind in ihrer Beziehung untereinander davon betroffen. Wer gestern noch Vorbild war, erscheint heute in einem anderen Licht, auch wenn er kein Täter war, sondern nur etwas gewusst hat. Letztlich werden die, die sich um Aufklärung bemühen, als „Nestbeschmutzer“ für diese Spaltungen verantwortlich gemacht. „Doch die Spaltung darf kein Grund sein, wieder wegzuhören. Wir können nur durch die Spaltung hindurch zu einer neuen Einheit finden. Stichwort Versöhung“, sagt P. Mertes.

In der Kirche als Institution, die wesentlich vom Vertrauen lebt, haben nicht nur die Missbrauchsfälle Vertrauen zerstört, sondern auch die Unterlassung des Schutzes für Schutzbefohlene. Zur Vermeidung künftiger Fälle jetzt mehr Kontrollsysteme einzuführen, ist eine verlockende Forderung. P. Mertes Appell aber lautet: „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.“ Vertrauen sei aber nur durch Vertrauen wieder auflebbar. „Die Botschaft an die Opfer darf aber nicht heißen, vertraut uns doch wieder, sondern wir als Kirche vertrauen euch.“

Viele weitere Fragen angestoßen

Jesuiten legen Zwischenbilanz zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals vor

Von Matthias Holluba

„Unheilige Macht“ – unter diesem Titel ist jetzt ein Buch erschienen, in dem der Jesuitenorden eine Zwischenbilanz zum Thema Missbrauchskrise zieht. Anfang 2010 waren Fälle von sexuellem Missbrauch am Berliner Jesuitengymnasium Canisius-Kolleg öffentlich geworden. Über das jetzt vorgelegte Buch sprach der Tag des Herrn mit Mitherausgeber, Hermann Kügler, Jesuitenpater und Leiter der Kontaktstelle Orientierung in Leipzig.


P. Hermann Kügler

Pater Kügler, in der Verlagsankündigung zu „Unheilige Macht“ heißt es, das Buch sei
eine Zwischenbilanz zum Missbrauchsskandal in den Reihen des Jesuitenordens.
Was hat die Jesuiten bewogen, eine solche Zwischenbilanz zu veröffentlichen?

Im Januar jährt es sich zum dritten Mal, dass ehemalige Opfer sexuell motivierter Gewalt begonnen haben, öffentlich auszusprechen, was ihnen in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch damalige Lehrer und Seelsorger angetan wurde. Mein Mitbruder Klaus Mertes hat am Berliner Canisius-Kolleg ehemalige Schüler ermutigt, ihr Schweigen zu brechen. Er hat ihnen signalisiert: „Wir glauben euch und wir hören euch zu, wenn ihr reden wollt“. Das führte dazu, dass auch an anderen Jesuitenschulen und Einrichtungen Opfer zu sprechen begannen. Nach nunmehr drei Jahren wollen wir offenlegen, worauf wir aufmerksam geworden sind und was für den eigenen Orden, die Kirche und die Gesellschaft vielleicht bedenkenswert sein kann. Am Aloisius-Kolleg in Bonn laufen jedoch noch Ermittlungen. Die vollständige Aufarbeitungsgeschichte am Aloisius-Kolleg steht noch aus.

Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?

Die wichtigsten Erkenntnisse für uns sind:
– Sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen mit schlimmen Folgen für die Opfer. Den Opfern zu helfen hat daher die wichtigste Priorität.
– Sowohl als Einzelne wie als Ordensgemeinschaft waren wir nicht wachsam genug, um die uns anvertrauten Kinder zu schützen.
– Auch die Täter brauchen Hilfe, besonders dann, wenn sie selbst Opfer sexueller Gewalt waren.
– Wir müssen alles uns Mögliche tun, um zu verhindern, dass in der Zukunft Ähnliches wieder geschieht.
– Wir wollen weiter aus unseren Fehlern lernen und dürfen nie wieder weghören, wenn ein mögliches Opfer sich bei uns meldet.
So ist unser Buch eine Station auf einem Weg, der noch nicht beendet ist.

Die Ex-Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann, hat bedauert,
dass in dem Buch kein Täter zu Wort kommt, was für die Betroffenen vielleicht sehr wichtig hätte sein können. Hat es Kontakt-Versuche gegeben?

Kontakt mit Tätern aufzunehmen war schwierig bis unmöglich. Denn die meisten Täter sind entweder bereits verstorben oder haben den Orden verlassen.

In der katholischen Kirche in Deutschland ist es eher ruhig geworden,
was die Missbrauchsdebatte betrifft. Ist die Krise aufgearbeitet?

Im Gegenteil, viele weiterführende Fragen sind angestoßen. Ich nenne die folgenden vier Bereiche:
– Unter welchen heilsamen Bedingungen kann der Lebensentwurf „Ordensleben“ gelingen? Wie gestalten wir Ordensleute in gesunder Weise unsere sexuellen Impulse?
– Wie hilfreich ist die in der Kirche vertretene Sexualmoral? Hier zeichnen sich in der Diskussion der vergangenen beiden Jahre Akzentverschiebungen und neue Sensibilitäten ab, die – konsequent weitergedacht – der theologischen und darum auch der kirchlichen Sexualethik ein neues Gesicht geben werden.
– Institutionen verfügen über Macht und verleihen Macht. Macht wird arrogant, wenn auf die „Institution nichts kommen darf“ und ihr guter Ruf wichtiger ist als das Wohl des konkreten Menschen. Image-Denken und Selbstbezogenheit müssen überwunden werden.
Nach wie vor gibt es in Kirche und Gesellschaft irrationale Ängste vor homosexuellen Menschen. Homosexuell Empfindende sind nicht mehr und nicht weniger gefährdet, sexuell übergriffig zu werden, als Heterosexuelle. Auch in der Kirche gilt es, die Realität homosexueller Liebe zu sehen und anzuerkennen.

2012-12-14 Generalanzeiger Bonn

Aberkennung der Trägerschaft

Ako-pro-Seminar klagt gegen die Stadt

Von Ebba Hagenberg-Miliu

BONN.  Das Ako-pro-Seminar, die dem Bad Godesberger Aloisiuskolleg (Ako) nahestehende Bildungseinrichtung, hat gegen die Stadt Bonn Klage beim Verwaltungsgericht Köln eingereicht.

Das Aloisiuskolleg in Bad Godesberg. Foto: Ronald Friese

„Wir hegen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der rückwirkenden Aberkennung der Trägerschaft freier Jugendhilfe“, erklärt der Ako-pro-Vorsitzende Dirk Stueber. Der Jugendhilfeausschuss hatte im September der Aberkennung mit klarer Mehrheit zugestimmt.

Der Grund: Das Rechnungsprüfungsamt (RPA) hatte 2011 der früheren Ako-pro-Leitung für 2008 bis 2010 systematische Täuschung bei der Beantragung sehr hoher Zuschüsse vorgeworfen. Seither ermittelt die Staatsanwaltschaft. Die Stadt kontrolliert die Zuschüsse rückwirkend bis 2000 und erhebt Rückforderungen.

Die Begründung der Aberkennung überzeuge nicht, so Stueber. „Vielmehr verstärkt sich der Eindruck, als wollten Politik und Verwaltung ein öffentlichkeitswirksames Zeichen setzen, ohne aber der aktuellen Arbeit und Entwicklung im Verein gerecht zu werden.“ Die Stadt hätte vor fünf Jahren genauer prüfen sollen, ob der Verein unter der damaligen Geschäftsführung seriös geleitet wurde, um vielleicht zurecht über eine Aberkennung und andere Maßnahmen zu entscheiden.

„Das haben Politik und Verwaltung aus unerklärlichen Gründen versäumt. Damals dürften nicht nur im Ako-Pro e.V., sondern auch auf Stadtseite wichtige Kontrollmechanismen nicht gegriffen haben“, kritisiert Stueber die Verwaltung. Die nachträgliche Aberkennung treffe in jedem Fall die Falschen.

Ako-pro habe Anfang der Woche die von der Stadt bislang geforderten Rückzahlungen in voller Höhe geleistet, so Stueber. Es handle sich um knapp 16.000 Euro. „Vor allem der Bereich Scouting wurde bei unterschiedlichen Aktivitäten und Fahrten 2009 und 2010 zum Teil zu Unrecht gefördert“, gibt Stueber mit Blick auf den RPR-Bericht zu.

2012-12-12 Newsletter von Radio Vatikan

Australien
Ein früherer Richter von Australiens Supreme Court soll für die katholische Kirche die Aufklärung sexuellen Missbrauchs koordinieren. Der Vorsitzende der Australischen Bischofskonferenz, Melbournes Erzbischof Denis Hart, berief den Juristen und Korruptionsexperten Barry O’Keefe am Mittwoch gemeinsam mit dem ehemaligen Chef der katholischen Gesundheitsorganisation Catholic Health Australia, Francis Sullivan, an die Spitze eines Gremiums, das mit einem staatlichen Untersuchungsausschuss zusammenarbeiten soll. Hart betonte die „volle Bereitschaft“ der Kirche zur Unterstützung der staatlichen Untersuchungskommission zum Umgang mit Missbrauchsfällen. O’Keefe unterstrich, es gehe nicht darum, Einfluss auf Zeugen zu nehmen. „Wenn man die Wahrheit sucht, sagt man den Leuten nicht vorher schon, was die Wahrheit ist“, zitierten australische Medien den Richter. Zugleich verteidigte er die Unabhängigkeit des kirchlichen Gremiums. Auch wandte er sich gegen eine Aufhebung des Beichtgeheimnisses bei Missbrauchsfällen. (kna)

2012-12-07 SPIEGEL ONLINE

Missbrauch in der Kirche
Was Priester zu Tätern werden lässt

Von Barbara Hans

Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz: Untersuchung zu übergriffigen GeistlichenZur Großansicht

DPA

Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz: Untersuchung zu übergriffigen Geistlichen

Die meisten Priester, die sich an Jungen oder Mädchen vergangen haben, sind nicht pädophil. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der deutschen Bischofskonferenz. Die Autoren haben sexuellen Missbrauch in der Kirche systematisch untersucht.

Hamburg – Die Antworten sind beruhigend und verstörend zugleich. Die meisten Geistlichen, die Mädchen und Jungen missbrauchen, sind weder psychisch krank noch pädophil. Zu diesem Schluss kommt die Studie „Sexuelle Übergriffe durch Geistliche in Deutschland“. Die Autoren haben forensische Gutachten aus den Jahren 2000 bis 2010 ausgewertet. Welche Männer werden zu Tätern? Haben sie eine auffällige Biografie, ein auffälliges Sexualverhalten? In welcher Beziehung stehen sie zu den Opfern?

Die Deutsche Bischofskonferenz hat die Untersuchung bei vier Psychiatern in Auftrag gegeben – dem bekannten Essener Gerichtspsychiater Norbert Leygraf und seinen renommierten Kollegen Hans-Ludwig Kröber, Friedemann Pfäfflin und Andrej König. Die Wissenschaftler werteten Gutachten über Priester und Ordensleute aus, die unter dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs vor Gericht standen und psychiatrisch untersucht wurden.

2002, nach dem Erscheinen der Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch, wurde das erste Gutachten von der Kirche in Auftrag gegeben – bei einem forensischen Psychiater. Mit dem Auffliegen des Missbrauchsskandals 2010 stieg die Zahl der Gutachten massiv an. Damals hatte sich die Kirche verpflichtet, in Missbrauchsfällen solche Expertisen einzuholen. Das Ziel: ausloten, welche Gefahr von den Männern ausgeht. Es ging der Kirche vor allem darum, zu wissen, wie sie mit den übergriffigen Geistlichen verfahren soll: aus dem Kirchendienst entlassen? Versetzen? Oder schlicht weitermachen lassen?

Die Taten der begutachteten Männer wurden zwar in den Nullerjahren bekannt, lagen oft aber Jahrzehnte zurück. Sie ereigneten sich zwischen den sechziger und den neunziger Jahren. Von 27 deutschen Bistümern stellten 21 ihre Gutachten für die Metaanalyse zur Verfügung.

Schließlich wurden Gutachten über 78 katholische Geistliche analysiert. Es ging den Forschern darum, Muster zu identifizieren – der Kirche darum, Risiken und Gefahren besser einschätzen und eine bessere Prävention leisten zu können. Und nicht zuletzt darum, im Missbrauchsskandal verlorene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.

In welcher Form waren die Geistlichen übergriffig geworden?

In zwölf Fällen ging es ausschließlich um den Besitz von Kinderpornografie. Darüber hinaus wurden 66 Geistlichen insgesamt 576 Übergriffe vorgeworfen. Die Untersuchung spricht von 265 Opfern.

In der Mehrheit der Fälle kam es zu sogenannten Hands-on-Handlungen – einem Körperkontakt zwischen Täter und Opfer: Vergewaltigungen, sexueller Nötigung. In zehn Fällen kam es zu sogenannten Hands-off-Handlungen – Handlungen ohne Körperkontakt wie der Aufforderung, sexuelle Handlungen an sich oder anderen durchzuführen, Masturbation vor Personen. Sechs Geistlichen wurden sowohl Hands-on- als auch Hands-off-Handlungen vorgeworfen. Die Mehrzahl der Täter räumte das Vergehen ein.

Vereinfacht gesagt kommt die Metaanalyse zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der übergriffigen Geistlichen nicht psychisch krank ist. Das mag auf den ersten Blick für die Kirche ein erfreuliches Ergebnis sein, bescheinigt es ihr doch eine solide Auswahl ihrer Priesteramtsanwärter. In ihren Reihen finden sich demnach nicht auffällig viele Pädophile. „Diesbezüglich zeigen sich keine bedeutsamen Unterschiede zu Erhebungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung“, sagt Leygraf.

Die Mehrheit der Männer, die sich wegen Missbrauchs verantworten mussten, hatten keine sogenannte sexuelle Präferenzstörung. Gutachter Leygraf spricht von einem „normalpsychologischen Bereich“, es gibt bei den Männern keine auffällige Psychopathologie. In 68 Prozent der Fälle wurde keine psychiatrische Diagnose gefällt.

Das Problem liegt in den Strukturen

Im Umkehrschluss bedeutet es für die Kirche aber auch, dass die Probleme in den Strukturen des Systems liegen. Nämlich einer Institution, die auf Vertrauen und Macht fußt – und in der Transparenz über Jahrzehnte undenkbar war. Der Beichtstuhl war heilig, der Priester war es auch, so durften weder Situationen noch Personen in Zweifel gezogen werden. Die Geistlichen waren die Götter der Gemeinden, oft galt schon Widerspruch als Frevel. Das Klima der Kontrolle und Intransparenz hielt sich in der katholischen Kirche sehr viel länger und nachhaltiger als in der Gesellschaft.

Das spiegelt sich in der Untersuchung wider. Sie legt dar, wie viel Zeit zwischen der ersten Tat eines Priesters und der Meldung an das Bistum verging: Oft waren es Jahre, in denen weggeschaut oder zumindest nicht reagiert wurde, in denen Opfer schwiegen. Bei dem ersten sexuellen Übergriff waren die Täter im Schnitt rund 36 Jahre alt. Die Meldung an das Bistum erfolgte durchschnittlich 14 Jahre später. Jahre, in denen der Priester oftmals unbehelligt weiter in seinem Umfeld agieren konnte. Bis zur Begutachtung vergingen noch einmal Jahre.

Mehr als die Hälfte der übergriffigen Priester verging sich denn auch an zwei oder mehr Opfern. In einem der untersuchten Fälle gab es gar 22 Betroffene.

Wie auch in anderen Ländern sind die Opfer häufiger männlich als weiblich. Die Verfasser führen dies darauf zurück, dass es in den achtziger Jahren kaum Messdienerinnen gab – die Priester also schlicht weniger Zugang zu Mädchen hatten. Der Kontakt zu den späteren Opfern entstand ganz überwiegend im Rahmen der Gemeindearbeit.

Bezeichnend sind die Empfehlungen, die in den Gutachten ausgesprochen wurden: In fast jedem zweiten riet der Psychiater dazu, den übergriffigen Priester erneut oder weiter in einer Gemeinde zu beschäftigen. Nur in zwölf Fällen wurde von einem weiteren Einsatz abgeraten. Der Forensische Psychiater Leygraf kommt in der nun vorgelegten Metastudie zu dem Ergebnis: „Verbleiben sexuell übergriffige Geistliche innerhalb ihrer Kirche, dann verfügen sie über ein soziales Kontroll- und Unterstützungsnetzwerk, welches unter rückfallpräventiven Gesichtspunkten als protektiver Faktor angesehen werden kann.“ Das klingt etwas umständlich, es meint: Die Kirche soll die Geistlichen in ihren Reihen belassen. Allein: Für die Opfer dürfte das schwer nachvollziehbar sein.

2012-12-07 Radio Vatikan

Bischof Ackermann: Missbrauchstäter nicht aus der Kirche verstoßen



Katholische Priester, die Minderjährige missbrauchen, sind in den seltensten Fällen in klinischem Sinne pädophil. Das geht aus dem Abschlussbericht der Deutschen Bischofskonferenz zur Analyse forensisch-psychiatrischer Gutachten hervor. Der Bericht wurde an diesem Freitag der Presse vorgestellt. Darin wurden die Fälle von 78 Priestern untersucht, die durch sexuelle Übergriffe auf Minderjährige aufgefallen waren. Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Studie: Die Beweggründe für sexuelle Übergriffe ließen sich überwiegend dem „normalpsychologischen Bereich“ zuordnen – genau wie bei nicht-geistlichen Tätern. Der Beauftragte der DBK zu den Missbrauchsfällen, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, erläutert, welche Aufgabe die forensischen Gutachten haben, die in der Studie untersucht wurden:

„Die Gutachten sollen den Entscheidungsträgern, d.h. in diesem Fall den Bischöfen, helfen, eine Entscheidung darüber treffen zu können, wo kann – wenn überhaupt – jemand, der sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hat, in der Seelsorge noch eingesetzt werden. Natürlich ist das nur ein Aspekt. Es geht doch aber um die Frage der Gefährlichkeitsprognose.“

Die Wissenschaftler hätten des Weiteren empfohlen, Täter nicht aus der Kirche komplett zu verstoßen, weil sie „im System Kirche“ besser zu kontrollieren sind und die Gefahr eines Rückfalls geringer wird.

„Wenn es um Krisenphasen bei priesterlichem Dienst geht, dann müssen wir mit den Betroffenen im Gespräch kommen.“

Bischof Ackermann stellte die Studie zusammen mit Norbert Leygraf vor. Dieser arbeitet beim Institut für Forensische Psychiatrie in Essen. Die Studie trägt den Titel: „Sexuelle Übergriffe durch katholische Geistliche in Deutschland – Eine Analyse forensischer Gutachten 2000-2010“.
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2012-12-07 kulturradio vom rbb

Rundfunksendung „Kulturtermin“

Von Margarethe Steinhausen
Redaktion: Ursula Vosshenrich

Hochmut kommt vor dem Fall. Schonungslos analysiert Pater Godehard Brüntrup, Professor an der Hochschule für Philosophie in München, das lähmende Entsetzen im Jesuitenorden als die jahrzehntelang vertuschten Missbrauchsfälle bekannt wurden. Man habe sich lieber mit der ruhmreichen Geschichte des Ordens identifiziert als genau hinzusehen und hinzuhören. Lebenslügen, Naivität und Verdrängung – das waren Hauptursachen dafür, warum der Orden von der Aufdeckung der Missbrauchsfälle kalt erwischt wurde.

Dabei gab es eine Fülle von Anzeichen für Missbrauch, die nicht zu übersehen waren. Für jeden sichtbar: Fotos von knapp bekleideten Knaben im Foyer des Aloisiuskollegs der Jesuiten in Bad Godesberg beispielsweise. Auch Pater Godehard Brüntrup hat sich bei einem Besuch des Kollegs über diese Fotos  gewundert:

>>Ich war erst frisch in den Orden eingetreten, kurz nach dem Abi, da hingen die Bilder, sie transportierten eine erotische Botschaft, wir hatten dann eine Diskussion, es war da eine „freigeistige“ Gruppe, die sagten, das ist noch o.k., das ist noch im Rahmen, aber die Mehrheit fand es ausgesprochen merkwürdig.<<

Nur ein einziger, Georg Maria Roers, damals junger Jesuit, hat sich bei den Verantwortlich über diese ungewöhnliche Fotogalerie beschwert und auch auf andere Übergriffe am Kolleg hingewiesen. Zum Beispiel, dass Pater S. mit großer Regelmäßigkeit den pubertierenden Jungen beim Duschen zusah. Georg Maria Roers stieß mit seinen klaren Hinweisen auf Missbrauch nicht nur auf taube Ohren im Orden. Er wurde praktisch kaltgestellt, so Godehard Brüntrup.

>> Er ist daraufhin von den Verantwortlichen nach seiner Aussage durch üble Nachrede eingeschüchtert worden. Die Tragödie und das Versagen ist, dass die Hinweise, die er gegeben hat, nicht in der rechten Weise aufgenommen wurden. Daran gibt es nichts zu deuteln, rückblickend.<<

Wer sich an die platte These des früheren Bischofs Mixa erinnert, nach der die 68er Schuld an den Missbräuchen gewesen seien, liest etwas erstaunt, dass auch Godehard Brüntrup den 60er Jahren einen indirekten Einfluss zuschreibt. Die Zahl der Verbrechen war in diesem Zeitraum besonders hoch. Eine Ursache sei, dass über Jahrzehnte gewachsene Sicherheitssysteme damals nicht mehr beachtet wurden.

>> Es gab bei uns die Regel, dass Erzieher mit Kindern und Jugendlichen sich nicht allein in einem Zimmer aufhalten durften. Da gab es ein eigenes Sprechzimmer, da war ein Fenster mit einer Glastür, so dass von vornherein klar war, das kann niemand ausnutzen. Das wurde über Bord geworfen als alter Zopf. Man ist dann sogar mit Kindern zum FKK-Strand schwimmen gegangen, und wer sich dagegen gewehrt hat wurde als antiquiert und verstaubt bezeichnet. Solche Dinge haben es den Tätern erleichtert nicht aufzufallen.<<

Bedauerlicherweise äußert sich in dem Band „Unheilige Macht“ kein Täter. Das Buch enthält nur den knappen Text eines damals Verantwortlichen, der im bekannten Tonfall einräumt: er sei damals mit Blindheit geschlagen gewesen. Aber der Sammelband, der auch strittige Themen wie Homosexualität und Zölibat nicht ausklammert, macht vor allem eines deutlich: Man hätte etwas wissen können, aber das wollte man gar nicht. Ausdrücklich betonen die Herausgeber, dass die Textsammlung keine Bilanz, sondern nur eine Standortbestimmung in der Auseinandersetzung um die Missbrauchsthematik ist. „Unheilige Macht“ ist somit auch ein Versuch, den Opfern zu signalisieren, dass viele Jesuiten an weiterer Aufklärung arbeiten und durch Gespräche Versöhnung anstreben wollen.

2012-12-07 FREIEWELT

Aus gegebenem Anlass: Ein notwendiges Bekenntnis
zum Jesuitengymnasium Aloisiuskolleg

Von MARTIN LOHMANN, Bonn

Vielleicht mutet es manchem seltsam an, wenn sich jetzt ehemalige Schüler melden und sich ausdrücklich zum Aloisiuskolleg bekennen. Doch das ist dringend notwendig, nachdem mehr und mehr der Eindruck entsteht, diese Schule sei ein Hort des Missbrauchs und der Verantwortungslosigkeit gewesen. Das Gegenteil ist wahr.

Meine Schulzeit am Ako liegt lange zurück. Mein Abitur habe ich 1976 gemacht. Und ich erinnere mich an eine eigentlich ganz normale Schulzeit. Es gab gute und weniger gute Lehrer, gute und weniger gute Schüler. Es gab die Internen und die Externen, also jene, die im Internat lebten, und uns, die wir aus Bonn und Umgebung jeden Tag anreisten. Es gab Patres und weltliche Lehrkräfte. Beliebte und weniger beliebte. Es gab Stress und Erholung. Fairness und Unfairness. Gerechtigkeit und auch mal keine. Wir haben diskutiert und gestritten. Wir haben gelacht und geweint. Der tödliche Unfall eines Klassenkameraden legte Trauer und Erschrecken ins Herz. Der zu frühe Tod eines exzellenten Paters, der soeben erst große Verantwortung übernommen hatte, lähmte ebenfalls.

Und: Wir waren alle irgendwie stolz und dankbar, ausgerechnet an dieser Schule sein zu dürfen. Auch wenn sie bisweilen nervte. Ja, auch ich habe mich über vieles geärgert, habe Widerstand geleistet und widersprochen. Mir war sie bisweilen zu wenig katholisch, als man im Orden selbst erst seinen Standort im nachkonziliaren Leben suchte. Verunsicherte und suchende Patres waren für pubertierende Zöglinge eine willkommene Herausforderung. Einer von ihnen mit seinem mehr als selbstbewussten und schon mal überheblich wirkenden Lächeln natürlich auch. Dass andere ihn fürchteten oder – bisweilen gleichzeitig – verehrten, änderte an dieser kritischen Haltung ihm gegenüber nichts. Auch nicht, als er mein Mathematiklehrer wurde – was sich aber in der Zeugnisnote nicht positiv niederschlug.

Von Missbrauch im Internat wussten wir Externen nichts. Deshalb sind wir auch so erschrocken und auch angewidert, wenn jetzt ein ganz anderer Eindruck über unsere ehemalige Schule gestülpt wird, als wir ihn haben. Und unseren Eindruck haben wir nicht in verklärender Rückschau. Das würde übrigens nicht passen zu echten Jesuitenschülern, die stets – wenn sie das jesuitische Denken erkannt haben – in einer distanzierten Nähe zum Orden leben und sich nicht schwer tun, ihre Wertschätzung durch kritische Anerkennung zum Ausdruck zu bringen. So ähnlich machen es ja auch die Jesuiten mit sich selbst.

Irgendwann bin ich einmal in einem Interview spontan gefragt worden, was ich denn bei den Jesuiten am Aloisiuskolleg gelernt habe. Meine Antwort damals: Die notwendige Verbindung der inhaltlich gefüllten Begriffe von Freiheit und Verantwortung – und das mutige Nutzen beider verpflichtenden Chancen. Dabei bleibe ich auch heute.

Man hat uns viel zugetraut, wir wurden – wenigstens meistens – als Personen ernstgenommen und mehr oder weniger dazu getrieben, angstfrei uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen. Selbstbewusstsein konnten wir lernen, weil wir es auch erfahren und erleben durften. Nachdenklichkeit ebenso. Neugier. Respekt. Intellektuelle Redlichkeit. Zuhören und Hinhören. Verstehen. Reden.

Ja, es ist Zeit, dies einmal deutlich zu sagen! Das Aloisiuskolleg war und ist eine gute Schule! Keine unfehlbare, weil die handelnden Menschen eben auch wie überall fehlbare waren und sind. Nichts soll und darf verharmlost werden, denn vieles, was wir jetzt erfahren, ist widerlich, unverantwortlich und schlimm. Nichts darf mehr verschwiegen oder vertuscht werden, auch nicht verharmlost. Eine Alternative zur Aufklärung gibt es nicht. Und vermutlich beschädigt niemand so sehr den Jesuitenorden wie einzelne Jesuiten, die als Seelsorger Seelentötung betrieben haben. Aber diese sind nicht „der“ Orden, nicht „die“ Jesuiten, und schon gar nicht „das“ Aloisiuskolleg.

Es ist tragisch, dass ausgerechnet einer der Feinsten und Sensibelsten nun hingeschmissen hat und weg ist. Pater Theo Schneider genoss Vertrauen, war für die Schüler als treuer Seelsorger da, spürte auf, hörte hin, hörte zu, hörte auch das nicht Gesagte. Dass ausgerechnet er womöglich das erste und schmerzlichste Opfer – wegen möglicher Mitwisserschaft – eines von seinem großen Gönner ausgelösten Skandals ist, macht traurig. Und dass sein Rücktritt als Folge einer spontanen Entscheidung dieses vielleicht zu wenig Mutigen gegenüber seinem mitbrüderlichen Übervater von der Ordensleitung sofort angenommen wurde, bleibt vorerst unverständlich.

Dort, in der deutschen Ordensleitung, schlummert jetzt Verantwortung zum Handeln. Verantwortung für Theo Schneider, den man nicht allein lassen darf. Verantwortung für die Schülerinnen und Schüler am Ako, für die Lehrer und Eltern, und auch gegenüber den Altschülern. Theo Schneider gehen zu lassen ist das eine. Jetzt klug und pastoral zu handeln ist das andere. Hier darf man nichts und niemanden anhaken. Große Verantwortung zwingt zum klugen Handeln.

Theo Schneider war, so sagen viele, die Seele des Hauses. Dennoch und trotz allem. Die Tränen, die „seine“ Schüler und Kollegen – und auch er selbst – bei der ebenso spontanen wie überraschend plötzlichen Abschiedszeremonie vergossen haben, waren echt und ein erkenntnisreiches Zeichen. Hier wurde ehrliche Trauerkultur sichtbar. Schmerz und Verlust. Das Fackel- und Kerzenspalier, das die Schülerinnen und Schüler ihm schließlich gaben, als der Ako-Theo sein Ako verließ, war ein Zeugnis. Ein Zeugnis für den Pater und für die Schüler. Und ein Zeugnis für „mein“ Aloisiuskolleg, das eine sehr gute Schule war und bleiben sollte. Als ehemaliger Schüler sage ich mit Überzeugung: Ich bin stolz und dankbar, großartige Persönlichkeiten am Aloisiuskolleg erlebt zu haben. Und ich bin nach wie vor aus Überzeugung ein Jesuitenschüler.

Martin Lohmann (52) ist katholischer Publizist, Theologe, Historiker und Jesuitenschüler. Er ist Buchautor („Das Kreuz mit dem C“), Sprecher des Arbeitskreises Engagierter Katholiken (AEK) in der CDU, Bundesvorsitzender der Bundesverbandes Lebensrecht (BVL) und Lehrbeauftragter für Medienethik in Köln.

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2012-12-07 epd Landesdienst West

Jesuiten-Provinzial spricht
ehemaligem Aloisiuskolleg-Rektor Vertrauen aus

Jesuitenprovinzial Stefan Kiechle stellt sich ausdrücklich hinter Pater Theo Schneider, den ehemaligen Rektor des vom Missbrauchsskandal betroffenen Bonner Aloisiuskollegs. Der Provinzial habe Pater Schneider sein Vertrauen ausgesprochen und ihn mit einer neuen Aufgabe betraut, sagt Jesuitensprecher Thomas Busch am Donnerstag dem epd. Pater Schneider fungiert heute als Superior der Jesuiten in Göttingen. „Der Provinzial sieht keinen Anlass, dies infrage zu stellen.“ Die Ordensleitung weise den Vorwurf zurück, Mitwisser von Missbrauchstaten zu schützen.

Die Bonner Betroffengruppe Eckiger Tisch hatte am Mittwoch von der Ordensspitze gefordert, endlich die Verantwortung des ehemaligen Rektors an den Fakten zu messen und unmissverständlich öffentlich einzuordnen. Selbst das von den Jesuiten Ende November herausgegebene Aufklärungsbuch „Unheilige Macht“ habe mehrfach dokumentiert, dass Schneider der Mitwisserschaft verdächtigt wird. Schneider trat 2010 von der Bonner Kollegsleitung zurück.

Weder die Publikation „Unheilige Macht“ noch die Beiträge im Blog der Herausgeber gäben Anlass, die Verantwortung von Pater Schneider neu zu bewerten, widerspricht Provinzial Kiechle. Er selbst habe schon Anfang dieses Jahres eingeräumt, „dass Pater Schneider als Verantwortungsträger im Ako mehrfach nicht adäquat reagiert hat. Er hat dieses Versagen öffentlich anerkannt und um Entschuldigung gebeten“, sagte Kiechle. Dem Orden lägen zudem keine Erkenntnisse über eine mögliche strafrechtlich relevante Vertuschung und Vernichtung von Beweismitteln durch Pater Theo Schneider vor, die zu einer juristischen Untersuchung und Klärung Anlass geben könnten.

Die Deutsche Provinz der Jesuiten habe in Kenntnis der Fakten aus den jeweiligen Untersuchungsberichten mehrfach Verantwortung für das auch institutionelle Versagen des Ordens in den Missbrauchsfällen auch am Aloisiuskolleg übernommen. „Auch in direkten Schreiben an die Betroffenen sexueller Gewalt wurde das Versagen eingeräumt und um Entschuldigung gebeten“, sagte Jesuitensprecher Thomas Busch.

Was die möglichen Versäumnisse im Kontext von Missbrauchsfällen im dem Kolleg nahen Ako-pro-Seminar betreffe, erwarteten sowohl das Aloisiuskolleg als auch die Ordensleitung neue Antworten aus dem noch nicht abgeschlossenen Untersuchungsbericht des Hochschullehrers, Psychotherapeuten und Psychologen Arnfried Bintig. „Ein Grundsatz bei der Aufarbeitung von Vorwürfen von Missbrauchsfällen war es, dass der Orden nicht in eigener Sache ermittelt“, sagte Busch.

2012-12-07  Bonner Generalanzeiger

Provinzial vertraut Schneider
Ordensleitung und Eckiger Tisch sind uneins über die Rolle des vormaligen Ako-Rektors
Von Ebba Hagenberg-Miliu

BONN. Die Diskussion um die Verantwortlichkeit im Rahmen des Missbrauchsskandals am Bad Godesberger Aloisiuskolleg (Ako) nimmt nach Herausgabe des  Buchs „Unheilige Macht“ (der GA berichtete) im Blog der jesuitischen Herausgeber weiter Fahrt auf. Die Ako-Betroffenengruppe Eckiger Tisch fordert die Ordensspitze auf, „endlich die Verantwortung des ehemaligen Ako-Rektors Pater Theo Schneider an den Fakten zu messen und unmissverständlich öffentlich einzuordnen“. Das Buch dokumentiert mehrfach, dass Schneider der Mitwisserschaft verdächtigt wird. Schneider trat 2010 zurück und fungiert heute als Jesuiten-Superior in Göttingen. Provinzial Stefan Kiechle stellt sich wiederum auf GA-Anfrage ausdrücklich hinter Pater Schneider. Er habe ihm sein Vertrauen ausgesprochen und ihn mit einer neuen Aufgabe betraut. „Der Provinzial sieht keinen Anlass, dies in Frage zu stellen“, betont Sprecher Thomas Busch. „Die Ordensleitung weist den Vorwurf zurück, Mitwisser zu schützen.“

Die Ordensspitze und nicht nur die jesuitischen Buchautoren müssten Pater Schneiders Verantwortlichkeit für das ebenfalls von Missbrauchsfällen heimgesuchte Ako-pro-Seminar einräumen und Versäumnisse lückenlos benennen, legt der Eckige Tisch nach. Die Rolle des dahinterstehenden Systems „als Nährboden für Missbrauchstaten“ müsse grundsätzlich untersucht werden. Weder die Publikation „Unheilige Macht“ noch die Beiträge im Blog gäben Anlass, die Verantwortung von Pater Schneider neu zu bewerten, widerspricht dem wiederum Provinzial Kiechle. Er selbst habe schon Anfang 2012 eingeräumt, „dass Pater Schneider als Verantwortungsträger im Ako mehrfach nicht adäquat reagiert hat. Er hat dieses Versagen öffentlich anerkannt und um Entschuldigung gebeten“, so Provinzial Kiechle. Was mögliche Versäumnisse im Kontext von Missbrauchsfällen im Ako-pro-Seminar sowie die Frage nach einem dahinterstehenden System betreffe, erwartet der oberste Jesuit neue Antworten aus dem noch nicht abgeschlossenen Ako-Untersuchungsbericht von Professor Arnfried Bintig.

Die Opfergruppe Eckiger Tisch hinterfragt jedoch auch die Rolle Pater Schneiders bei einer möglichen „Vertuschung und Vernichtung von Beweismitteln“. Man erwarte trotz etwaiger Verjährung eine juristische Prüfung aller Fragen eventuell „unterlassener Hilfeleistung und Fahrlässigkeit“. Darauf antwortet Jesuitensprecher Busch, dem Orden lägen „keine Erkenntnisse über eine mögliche strafrechtlich relevante Vertuschung und Vernichtung von Beweismitteln durch Pater Theo Schneider vor, die zu einer juristischen Untersuchung und Klärung Anlass geben könnten.“ Ein Grundsatz bei der Aufarbeitung von Vorwürfen von Missbrauchsfällen sei es natürlich immer gewesen, dass der Orden nicht in eigener Sache ermittle.

Blog der Jesuiten: https://unheiligemacht.wordpress.com/

2012-12-05 Evangelischer Pressedienst West

Vorwürfe der Mitwisserschaft – Eckiger Tisch:
Ehemaligen Kollegrektor zur Verantwortung ziehen

Der Bonner Eckige Tisch, die Betroffenengruppe von sexualisierter Gewalt durch Jesuiten am Bonner Aloisiuskolleg, hat die Spitze des Jesuitenordens in Bonn, München und Rom aufgefordert, den ehemaligen Aloisiuskolleg-Rektor zur Verantwortung zu ziehen. Es sei an dem Orden, „endlich die Verantwortung des ehemaligen Aloisiuskolleg-Rektors Pater Theo Schneider an den Fakten zu messen und zweifelsfrei und unmissverständlich öffentlich einzuordnen“, forderte der Eckige Tisch am Mittwoch.

Der langjährige Rektor Pater Schneider war bei Ausbruch des Missbrauchskandals, nachdem ihm Mitwisserschaft vorgeworfen wurde, im Februar 2010 zurückgetreten. Er fungiert heute als Superior der Jesuiten in Göttingen.

Im Nachgang der Veröffentlichung ihres Ende November erschienenen Buches „Unheilige Macht: Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise“ müssten die Jesuiten jetzt Pater Schneiders Verantwortlichkeiten als Rektor und Vereinsvorsitzender des ebenfalls von Missbrauchsfällen heimgesuchten Ako-pro-Seminars einräumen und die Versäumnisse lückenlos benennen, forderte der Eckige Tisch Bonn. In dem Buch ist mehrfach von einer Mitwisserschaft Pater Schneiders an zahlreichen Fällen die Rede.

Das dahinterstehende System „als Nährboden für Missbrauchstaten“ müsse endlich grundsätzlich untersucht werden, mahnten die Betroffenengruppe. Wichtig sei auch, die Rolle Pater Schneiders „bei der Vertuschung und Vernichtung von Beweismitteln“ zu hinterfragen. Man erwarte trotz etwaiger Verjährung eine juristische Prüfung aller Fragen „eventueller Mittäterschaft, unterlassener Hilfeleistung und Fahrlässigkeit“.

„Der Jesuitenorden sollte schon aus Präventionsgründen endlich ernstzunehmende Sanktionen umsetzen und damit die Betroffenen und die an ihnen verübten Verbrechen ernst nehmen, statt Täter und Mitwisser zu schützen“, schreibt der Eckige Tisch Bonn. Die Ordensleitung müsse jetzt handeln und dürfe sich nicht länger hinter Dritten, etwa den jesuitischen Buchautoren, verstecken.

Herausgeber des Buchs „Unheilige Macht. Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise“ sind die Patres Godehard Brüntrup, Christian Herwartz und Hermann Kügler. Es listet auf, dass seit den 50er Jahren bis 2007 insgesamt 60 Jesuiten und 13 ihrer Angestellten mehr als 180 Kinder durch Gewalt fürs Leben gebrandmarkt hätten. Der Skandal betrifft fünf Schulen: das Berliner Canisius-Kolleg, das Kolleg St. Blasien, das Bonner Aloisiuskolleg, das Kolleg Büren und die Hamburger St. Ansgar-Schule.

Im Buch nennen die Jesuiten erstmals auch den Haupttäter am Bonner Aloisiuskolleg der letzten 40 Jahre: Pater Ludger Stüper, der „nach Gutsherrenart“ von 1974 bis 1992 als Internats- und Schulleiter geherrscht habe. Stüpers Nachfolger Schneider, der 2010 als Rektor zurücktrat, sei für einiges „Mitwisser“ gewesen, schreiben mehrere Autoren. Vieles sei der Ordensleitung durch Eltern- und interne Beschwerden bekannt gewesen. Aber es sei bis zum Ausbruch des Skandals vertuscht worden.

2012-12-06 general-anzeiger-bonn

Rechtspsychologe kritisiert Katholische Kirche heftig

„Gehe offen mit dem Missbrauch um“

Von Ebba Hagenberg-Miliu

Bonn.  Ein konsequentes Krisenmanagement der katholischen Kirche bei ihren Fällen des Kindesmissbrauchs hat bei einer Ringvorlesung der Uni Bonn deren Rechtspsychologe Rainer Banse angemahnt. „Die Organisation Kirche hat lange im Umgang mit den Missbrauchsfällen in ihren Institutionen versagt. Sie hat verleugnet, vertuscht und keine strukturellen Konsequenzen gezogen“, sagte der Professor bei einer Veranstaltung des Zentrums für Religion und Gesellschaft.

Die Loyalität zu den Tätern sei über lange Zeit wichtiger als das Bemühen um die Opfer gewesen. „Das Kirchenrecht schützt vor allem die Organisation und übt keine Vergeltung.“ Opfer seien zum Schweigen gebracht worden, indem man sie von den Einrichtungen entfernte, so der Rechtspsychologe. Wenn es dann dank öffentlichen Drucks nicht mehr weiterging, habe die Kirche sich zwar gegen die Täter gewandt, aber zunächst jede Verantwortung geleugnet.

Zudem habe es kaum eine Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden gegeben. „Es gab gerade in der Kirche sehr wenige Anzeigen wegen Missbrauchs von Kindern und noch weniger Verurteilungen.“ Dabei sei in der Gesellschaft der Mut der Opfer, Missbrauchstäter anzuzeigen, gestiegen: „1992 wurde nur jede zwölfte Missbrauchstat angezeigt, 2012 schon jede dritte“, sagte Professor Banse. Innerhalb der Katholischen Kirche hätten aber erst 2010 die Leitlinien der Bischofskonferenz eine formale Handreichung klargestellt, dass Delikte an die Strafermittlungsbehörden weitergegeben werden sollten, wenn das Opfer nicht ausdrücklich widerspreche.

„Es gibt Prinzipien, die sich jeder Bischof hinter den Spiegel stecken sollte“, so Banse. Institutionen, in denen Kindesmissbrauch geschehe, hätten auf die Opfer zuzugehen und weiteren Schaden von ihnen fernzuhalten. „Entschuldige dich öffentlich und oft und gehe offen und ehrlich mit den Vorfällen um“ sei ein weiteres Gebot. Nicht nur die Täter, sondern vor allem die Verantwortlichen müssten aus den Institutionen entfernt werden, bevor Strukturänderungen vorgenommen werden müssten. „Und dann heißt das auch: Zahle Entschädigungen, bevor Opfer dafür klagen müssen.“

2012-11-29 Die Zeit Christ&Welt

Eiskalt erwischt

Der Jesuitenorden setzt sich erstmals in einem Buch Mit den Missbrauchsfällen in seinen Internaten auseinander. Wie war es möglich? Wer hat versagt?
C&W druckt einen Auszug vorab.

Von Godehard Brüntrup SJ
Die Enthüllungen über den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen trafen die katholische Kirche in Deutschland völlig überraschend, auch den Jesuitenorden. Wir wurden eiskalt erwischt. Es waren nüchtern denkende evangelische Theologen, die darauf hinwiesen, dass die evangelische Kirche in Deutschland auch deshalb geringer betroffen sei, weil sie kaum Schulen mit Internaten betreibe. Umgekehrt hatten die deutschen Jesuiten mit ihren großen Internaten also keinen Grund, sich in Sicherheit zu wähnen.

Die erotische Attraktion von Heranwachsenden auf Erwachsene ist ein tief verwurzeltes und kulturell seit Langem thematisiertes Problemfeld. In seiner Novelle „Der Tod in Venedig“ hat Thomas Mann die psychologische Feinmechanik des feinsinnigen Intellektuellen, der mit der faszinierenden Schönheit eines Knaben konfrontiert wird, sublim in Worte gefasst. Eine wirklich reife personale Beziehung zu diesem Jungen ist gar nicht möglich, der Liebende verliebt sich in die Projektion seiner eigenen Wünsche auf die geschmeidige Haut des jugendlichen Körpers. Philip Roth hat in seinem großartigen Roman „Das sterbende Tier“ eindrücklich beschrieben, wie ein von den Nöten des Alterns geängstigter Professor eine Obsession für eine makellos schöne Studentin entwickelt, ohne in der Lage zu sein, eine reife, verantwortliche Beziehung mit ihr einzugehen.

Die meisten Priester vergingen sich an Jugendlichen, nicht an Kindern. Die wenigsten der Täter im Priesteramt waren pädophil im engeren psychiatrischen Sinn. Neben der erotischen Attraktion der Jugend spielt in vielen Berichten des Missbrauchs durch Priester die erotische Lust an der Beherrschung eines Schwächeren eine Rolle.

Die Missbrauchskrise eignet sich nicht dazu, homosexuelle Kleriker unter  Generalverdacht zu stellen. Es hat sich aber in einer Reihe von Studien gezeigt, dass Missbrauchstäter oft solche Personen waren, die zu altersgemäß reifen und tiefen personalen Beziehungen nicht oder kaum in der Lage waren. Es handelte sich um Personen, die oft trotz vielfältiger sozialer Aktivitäten innerlich vereinsamt waren. Wie in den von Thomas Mann und Philip Roth beschriebenen Fällen waren die Beziehungen zu viel zu jungen Partnern von vornherein durch ihre Asymmetrie zum Scheitern verurteilt. Es ging meist nicht um eine wirkliche Beziehung, sondern um den projektiven Umgang mit einem erotisch besetzten Gegenüber. In dieser mangelnden Beziehungsfähigkeit sehe ich eine legitime Anfrage an die zölibatäre Lebensweise, welche die katholische Kirche für ihre Kleriker vorschreibt. Verzicht auf gelebte Sexualität führt nicht von sich aus zu sexuellem Missbrauch. Es könnte aber sein, dass manche Personen, die sich mit tiefen, verbindlichen und altersgemäß reifen personalen Beziehungen schwertun, die Defizite ihrer solitären Existenz unter dem Deckmantel des Zölibats verstecken. Wenn solche Personen dann in Stellungen geraten, wo sie pädagogische Verantwortung übernehmen, ist eine Katastrophe nahezu programmiert.

In den alten Jesuitenschulen gab es ein detailliert ausgearbeitetes Regelsystem, das dazu diente, die Möglichkeiten von sexuellem Missbrauch oder anderen Übergriffen einzugrenzen. So war es beispielsweise üblich, dass ein Ordensmann, der Lehrer war, nicht auch gleichzeitig Schulseelsorger sein konnte. Er hätte sonst zu viel Macht über einen Schüler gewinnen können. Es war sogar die Regel, dass ein Ordensmann sich nicht mit einem Schüler allein in einem geschlossenen Raum treffen durfte. Zum Gespräch unter vier Augen ging man entweder durch den Park oder redete in einem Raum, der von außen einsichtig war. Diese Regeln warf man über Bord.

Die John-Jay-Studien über die katholische Kirche in den USA belegen einen deutlichen Anstieg des Missbrauchs in der Periode von 1965 bis 1985, danach erfolgte wieder ein rapider Rückgang. Der prozentuale Anteil beschuldigter Priester lag 1980 fast siebenmal höher als 1960, um dann bis 1990 wieder auf ein Viertel des Höchststandes von 1980 zu sinken. Die normative Verunsicherung der Gesellschaft in diesem Zeitraum ging an der Kirche nicht spurlos vorüber.

Wenn man beispielsweise am Aloisiuskolleg Fahrten mit Schülern unternommen hat, bei denen bestimmte Erzieher und Schüler gemeinsam nackt badeten, so hätte dies den alten Regeln widersprochen. In den Siebzigerjahren wurden hingegen Kritiker dieser Praxis als prüde und unzeitgemäß an den Pranger gestellt. Dabei hätte sofort ein gesundes Misstrauen geweckt werden müssen, wenn, wie mir ebenfalls von Augenzeugen berichtet wurde, ein sublimer psychologischer Druck auf die Schüler ausgeübt wurde, sich am Nacktbaden zu beteiligen.

Ich erinnere mich daran, wie ich Ende der Siebzigerjahre zum ersten Mal dieses Internat betrat. Die dort ausgehängten großformatigen Bilder von anmutigen und manchmal wenig bekleideten Knaben transportierten an die Mehrzahl der Betrachter eine erotische Botschaft. Ich war erst 20 Jahre jung, aber mir war sofort klar, um was es ging. Dass der Internatsleiter trotz dieser offensichtlichen Neigungen mit einem verantwortungsvollen pädagogischen Amt betraut wurde, kann nur darin begründet sein, dass man diese Art des pädagogischen Eros für nicht sehr problematisch ansah. Eine fatale Fehleinschätzung, für die einzelne Vorgesetzte und auch der Orden ohne jede Relativierung die moralische Verantwortung übernehmen müssen. Wie kam es zu diesem Fehler?

Hauptsächlich wohl, weil der Missbrauchstäter in vielerlei Hinsicht – vor allem finanziell – die Schule und das Internat erfolgreich führte. Für den reibungslosen Ablauf einer pädagogischen Einrichtung ist eine solche Neigung eventuell sogar nützlich. Wer sonst kümmert sich so bereitwillig und zu jeder Uhrzeit um das Waschen und das Fiebermessen und alles, was ihn sonst in die Nähe der Objekte des Begehrens bringt?

Die größte ethische Herausforderung in der Gestaltung erotischer und sexueller Beziehungen ist immer der Umgang mit der Macht über einen anderen Menschen. Diese Aufgabe ist schon schwer genug zu lösen, wenn sich Liebender und Geliebter auf Augenhöhe begegnen. In der asymmetrischen Lehrer-Schüler-Beziehung ist die Dynamik des Machtmissbrauchs kaum noch zu kontrollieren, wenn die Triebfeder des erotischen Begehrens auf

der Seite des Mächtigeren ins Spiel kommt. Bei meinen wenigen Besuchen im Bonner Aloisiuskolleg war genau dieses mit Händen zu greifen. Die Dominanz und Machtausübung des mittlerweile verstorbenen Hauptbeschuldigten war von solcher Intensität, dass ich mich an ein physisches Unwohlsein, eine Beklemmung erinnere, die mich dort in seiner Anwesenheit erfasste.

Der Jesuitenorden hat normalerweise erprobte Mechanismen, um die Machtausübung durch Einzelne zu begrenzen. Sie alle sind im vorliegenden Fall nicht den Anforderungen der Situation entsprechend angewendet worden. Auch dafür trägt der Orden die volle Verantwortung. Noch einmal verschärft wird diese unheilvolle Situation im speziellen Kontext des Katholizismus. Der Priester ist durch seine mit geistlicher Macht ausgestattete Autoritätsposition dem Heranwachsenden so sehr überlegen, dass diesem sogar die Anklage des geschehenen Unrechts als sinnlos erscheint, weil er davon ausgehen muss, dass ihm sowieso niemand glaubt.

Genau deshalb war der Satz von Pater Klaus Mertes so entscheidend: „Wir glauben Ihnen! Melden Sie sich!“ Es ist genau dieser Satz, der die unheilvolle Dynamik der Macht entmachtet. Pater Mertes war es auch, der von einem typischen Stallgeruch des katholischen Missbrauchs sprach. Dieser Schwefelgeruch entsteht, wenn der sexuell Begehrende sein wehrloses Opfer mit vermeintlich göttlicher Autorität in seine Gewalt bringen kann. Kann ein Kind wehrloser sein als in der Erfahrung, dass Gott selbst seine Peiniger in ihrem Tun legitimiert?

Aus dem Berliner Canisiuskolleg wurde berichtet, dass ein betroffener Schüler sich hilfesuchend an die Schulleitung wandte, dort aber mit dem Vorwurf der Lüge abgeschmettert wurde. Man hatte kein Ohr für ihn, man wollte die Realität nicht sehen. Man kennt dieses Phänomen durchaus auch in den Familien. Das idealisierte Bild des Vaters soll nicht angekratzt werden, ebenso sollte hier das idealisierte Bild des Paters erhalten bleiben. Diese Idealisierung stammt aber nicht von einem guten Geist. Der Jesuitenorden bezeichnet sich selber als eine Gemeinschaft von Sündern, die von Christus unter das Kreuz berufen wurde. Das ist eine richtige Selbsteinschätzung. Aber in der Frage des sexuellen Missbrauchs war man kaum bereit, auch nur zu denken, dass solche Untaten ein Teil der Realität des Ordens sein könnten.

Eine harte Anfrage an unsere Pädagogik ist ihr fast komplettes Versagen, die Stimme der in existenzielle Not geratenen missbrauchten Schüler zu vernehmen Diese Einsicht legt sich bleischwer auf die Seele, wenn man sie an sich heranlässt. Man möchte dann am liebsten all die schönen Bücher über ignatianische Pädagogik einfach zuklappen und die Läden dichtmachen. Die Opferperspektive einzunehmen heißt, nun auch anzuerkennen, dass die Sache nicht damit erledigt ist, dass die institutionellen Pflichten und Hausaufgaben erledigt sind. Gerade jetzt böte sich die Chance, ohne die aufgewühlten Emotionen des Anfangs erneut und vertieft miteinander ins Gespräch zu kommen. Hier sollte jeder Einzelne im Geiste des Evangeliums einen Ruf zur Umkehr und zur Veränderung, zur Öffnung des Herzens verspüren.

Warum geschieht das so wenig? Meine Vermutung ist, dass die mangelnde Bereitschaft zur Umkehr mit dem Mangel an Anerkennung von Schuld zusammenhängt. Ich bekenne, dass ich – obwohl ich nie in einer Schule oder der Jugendarbeit tätig war – Indizien gesehen oder davon gehört habe und dass ich nicht mit der Hartnäckigkeit darauf reagiert habe, die ich mir heute wünsche. Die moralisch relevante Frage an den Orden liegt nicht in erster Linie darin, was man faktisch gewusst hat, sondern was man hätte wissen können.

Der Jesuitenorden als Gemeinschaft hat den Prozess, das Unrecht als Teil der eigenen Geschichte anzuerkennen, noch nicht hinreichend bewältigt. Die Tendenzen, das Unrecht wegzudrängen als „von mir nicht verübt und gewusst“ sind noch immer stark. Die Übernahme der Verantwortung kann nur geschehen, wenn sich der Orden als Ganzer diese dunkle Seite aneignet als Teil seines eigenen lebendigen Organismus. Dazu gehört es, die ganze Wahrheit schonungslos ans Licht zu bringen und sie sich als Teil der eigenen Biografie anzueignen.

Durch die Übernahme der Verantwortung eignet man sich das Geschehene an und gewinnt gerade dadurch Macht darüber. Mehr noch: Wenn ich das Geschehene zum Teil meiner Geschichte mache als Mitglied dieser sozialen Struktur des Jesuitenordens und der Kirche, dann trifft mich das Leid der Opfer wirklich ins Mark, es bereitet mir schlaflose Nächte. Das ist nicht allein Mitleid, sondern auch tief empfundener Schmerz darüber, was in der Gemeinschaft von Menschen, zu der ich mich zugehörig fühle, möglich ist.

Wenn dieser brennende Schmerz gespürt wird, dann kann man nicht mehr sagen, dass es uns bloß „kalt erwischt“. Dann haben wir die Gewalttat als Teil unserer Geschichte anerkannt. Erst aus dieser Anerkennung kann Reue und Umkehr entstehen. Und wenn diese tief empfunden wird, kann vielleicht irgendwann eine Wärme des Herzens spürbar werden, die Versöhnung möglich macht. Dieser Weg ist weit, so unendlich weit.

Godehard Brüntrup  ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Philosophie München und Mitherausgeber des Buches  “Unheilige Macht – Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise“. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2012. 202 Seiten, 22,90 Euro.

Der hier abgedruckte Text ist ein stark gekürzter Auszug aus seinem Beitrag zum Buch.

DREI FRAGEN AN GEORG MARIA ROERS

„Die Wut dauert an“

MISSBRAUCH Der Jesuitenpater nennt im Buch die Namen von Tätern.
Das brachte ihn in Schwierigkeiten

Christ & Welt: Sie nennen in Ihrem Beitrag über das Bonner Aloisiuskolleg Täternamen. Warum ist das notwendig, erst recht, wenn es um Verstorbene geht, die nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können?

Georg Maria Roers: Wer sich an Kindern vergeht, der vergreift sich an Leib und Seele eines Menschen. Es besteht eine Beziehung von Ungleichen, die nie hätte zustande kommen dürfen. Die Macht, die vom Täter ausgeht, wird das Leben des Kindes unter Umständen lebenslang begleiten, wenn zum Beispiel kein weltliches Gericht ein solches Kapitalverbrechen juristisch aufarbeitet. Um ein solches Verfahren werden Betroffene betrogen, wenn der Täter verstirbt. Ross und Reiter müssen genannt werden, um die Aufklärung voranzubringen. Das ist auch eine ver trauensbildende Maßnahme. Anders ist Glaubwürdigkeit nicht zurückzuerlangen.

Solange die Gesellschaft keine Denkmäler für die Opfer errichtet, muss jede Möglichkeit genutzt werden, den Betroffenen zu helfen, sich mehr und mehr aus der Deckung zu trauen. Manche kommen mit dem Leid ein Leben lang nicht zurecht, weil keiner sie anhört. Hat ein Erwachsener die Möglichkeit, sich auf Augenhöhe mit seinem Täter, etwa vor Gericht, auseinanderzusetzen, wird ein seelischer Prozess in Gang gesetzt, der unschätzbar wichtig ist.

C & W: Weshalb ist Ihr Text nur in einer stark gekürzten Version erschienen?

Roers: Weil ich zu viele Originalzitate gebracht habe, wurde der angeforderte Textumfang bei Weitem gesprengt. Ich war ziemlich sauer, als der Vorschlag kam, den Text um die Hälfte zu kürzen. Aber die Herausgeber wollten eben kurze Beiträge. Das Buch sollte 200 Seiten nicht überschreiten. Allerdings war ich entsetzt, als kurz vor Drucklegung noch einmal Änderungen gemacht werden sollten. Die jetzige Form kann ich aber sehr wohl mit meinem Gewissen vereinbaren. Das Entscheidende ist gesagt. Bei uns Jesuiten wird immer um Texte gerungen. Das ist Usus. Die notwendige Diskussion geht weiter.

C & W: Wie haben Sie persönlich versucht, den Opfern gerecht zu werden?

Roers: Mir war es möglich, den Betroffenen von Anfang an zu glauben, weil ich meine eigenen Negativ-Erfahrungen mit dem Aloisiuskolleg der Neunzigerjahre machen musste. So konnte ich mit den Betroffenen auf Augenhöhe sprechen. Oft habe ich mir die Aussagen der Betroffenen zu eigen gemacht. Das führt dazu, dass man zeitweilig seinen eigenen Orden infrage stellt. Institutionen qua Apparat können sowieso nicht leisten, was im persönlichen Gespräch geschieht. In einem Fall habe ich ganz konkret jenen Schüler ermutigt, der als Erster in allen Medien über seine Erfahrungen am AKO gesprochen hat. Was die Betroffenen jahrzehntelang gequält hat, kommt immer mehr zutage. Die Phase der Wut über Orden und Kirche dauert bei manchen immer noch an.

Die Fragen stellte Christiane Florin.

Georg Maria Roers ist Theologe, Publizist und Lyriker. In seinem Beitrag zum Buch

2012-11-28 Süddeutsche Zeitung

Hinschauen, auch wenn es wehtut

Text: Eva-Elisabeth Fischer Bild: dpa

Andreas Huckele alias Jürgen Dehmers bekommt in München den Geschwister-Scholl-Preis für seine herausragende Schilderung der Ereignisse an der Odenwaldschule.

Am Ende kam er doch, der direkte Bezug: ‘Die Geschwister Scholl haben durch das, was sie getan haben, ihr Leben verloren. Ich habe durch das, was ich getan habe, mein Leben gewonnen.’ Der Mann, der das sagt, heißt Andreas Huckele, bisher bekannt unter seinem Pseudonym Jürgen Dehmers, unter dem 2011 auch sein Buch ‘Wie laut soll ich denn noch schreien?’ erschienen ist. Dafür, dass er den Mut aufbrachte, die sexuelle Gewalt an Deutschlands Vorzeige-Reformschule, der Odenwaldschule, während der Ägide des pädophilen Schulleiters Gerold Becker mit nachgerade Kohlhaas”scher Ausdauer publik zu machen, wurde er in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Mit der Ehrung konnte er endlich den Tarnnamen ablegen und damit – für ihn eine große Erleichterung – seine Doppelexistenz beenden.

Autor Andreas Huckele

Huckele ist selbst Lehrer geworden. Und Langstreckenläufer. SZ-Redakteur Tanjev Schultz, der ihn publizistisch lange Zeit begleitet hat, sprach Huckele in seiner Laudatio direkt an: ‘Laufen ist Ihr Ding. Weglaufen nicht.’ Da dieser nun nach 13 Jahren endlich gehört wird – ein erster Artikel über die Missstände an der Odenwaldschule in der Frankfurter Rundschau 1999 versandete folgenlos -, tritt der blonde, mit 43 Jahren jugendlich-alerte Mann sehr aufrecht auf, selbstbewusst und, ja doch, auch forsch. Das Vorwärts, die Attacke gehören zu seiner Überlebensstrategie wie das ständige Misstrauen, die Skepsis und die Unfähigkeit, sich ‘ungetrübt zu freuen’. Und nun, da vor dem einst sprachlosen, durch permanente sexuelle Übergriffe gedemütigten Opfer die Menschen in der Uni aufstehen, um ihm als nun Bepreisten und in Lobreden Gepriesenen zu applaudieren, erfüllt sich sein Wunsch, dass sich doch an diesem Abend alle mit ihm ungetrübt freuen möchten.

Denn die Wahl des heurigen Scholl-Preisträgers hat so manchen irritiert, ist Huckele doch in der langen Reihe der bisher Erwählten der erste und einzige, dessen couragiertes Engagement sich nicht gegen ein politisches System richtet. Das ‘System Gerold Becker’ ist, wenn man so will, ein Politikon als skandalöser Auswuchs einer missverstandenen gesellschaftlichen Libertinage, in der – so lautete auch Beckers Credo für ‘seine’ Schule – alles erlaubt ist. Wenn das Skandalöse aber, etwa die Tatsache, dass jedes fünfte Kind missbraucht wird, nicht öffentlich skandalisiert wird, weil es unangenehm ist hinzuhören und hinzusehen, dann krankt die Gesellschaft an sich. ‘Unsere Gesellschaft ist brüchig’, sagte Schultz.

Auch heute. Und nicht nur vor 30, 40 Jahren. In den 70er und 80er Jahren schlug längst nicht nur im ‘System Becker’ die Grenze von der sexuellen Befreiung hin zur sexuellen Gewalt um. Die Nivellierung der Hierarchie zwischen Lehrern und Schutzbefohlenen entgleiste in gewalttätigen Übergriffen. Das wurde lange Jahre ausgeblendet und ignoriert, zumal sich nicht nur Bundespräsident Richard von Weizsäcker gern mit dem Reformpädagogen Hartmut von Hentig in der Odenwaldschule zeigte und damit indirekt die dortigen Schändlichkeiten sanktionierte.

Der Fisch stinkt vom Kopf her. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude stellte sie, die rhetorische Frage, ob Kritik an heutigen Missständen ein Akt der Zivilcourage sein könne, da einem hier doch nichts drohe. Dass Huckeles Buch von 20Verlagen abgelehnt wurde, bevor es von Rowohlt gedruckt wurde, wertete er als Versagen der Zivilgesellschaft, wie er sie eigentlich für unmöglich gehalten hatte. Er sieht darin ein Pendant zum Staatsversagen in der Verfolgung der NSU. Und, so Ude: ‘Das Buch beschreibt auch Vorkommnisse in unserer Stadt.’ Nein, der Preis sei nicht überflüssig: ‘Gerade in diesem Jahr stehen wir vor dem Versagen in der Aufklärung einer Mordserie und einer Zivilgesellschaft, die Zeitungsartikel und ein Buch ignorierten’, sagte Ude, ‘und die wegschauten, um die Reformpädagogik und ihre vermeintlich guten Zwecke zu schonen’.

Ude erinnerte an seine Rede anlässlich der postumen Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an die in Putins Russland ermordete Anna Politkovskaja. An seine Formulierung, dass ein moderner Staat schuldig würde durch sein Versagen. Nun, angesichts der NSU wie auch angesichts der Missbrauchsfälle in München müsse man sich an die eigene Nase fassen. ‘Russische Verhältnisse’, so dachte sicher mancher der geladenen Gäste, herrschten auch in der Judikative im Fall Gustl Mollath.

Wegschauen, vertuschen, und das, was das Vorstellungsvermögen erst einmal überschreitet, nicht glauben: Andreas Huckele macht Mut, nicht nur die Spitze des Eisbergs, wie im aktuellen BBC-Missbrauchsskandal, sehen zu wollen, sondern den ganzen Eisberg. Für die Odenwald-Schule fordert er: ‘Der Laden muss geschlossen werden.’ Und, ganz im Sinne des Gründervaters der Reform-Pädagogik, John Dewey, für die Kinder eine Welt, die ihnen eine unversehrte Zukunft ermöglicht.

2012-11-22 kipa

Zitat:

Nicht besonders demütig   

22.11.12 (Kipa) “Jesuiten sind nicht besonders demütig. Im Stolz auf die vielen grossartigen Persönlichkeiten, die der Orden hervorgebracht hat, sonnt sich jeder von uns gern. So kann man es dann nicht ertragen oder möchte wegschieben, wenn dieses Bild angekratzt wird. Lebenslügen, Naivität und Verdrängung haben bei uns eine Rolle gespielt. Wobei das Problem nicht war, dass man alles genau gewusst hat und das dann unter den Teppich kehrte. Vielmehr wussten unsere Vorgesetzten vor 20,30 Jahren vieles von dem nicht, was wir heute wissen. Aber sie hatten klare Indizien, denen sie nicht nachgingen. Man hat nicht genauer hingeschaut.”

Der Münchner Jesuit Godehard Brüntrup im Interview mit der Katholischen-Nachrichtenagentur KNA (22. November) zur Aufarbeitung der Missbrauchskrise in seinem Orden. Auf Initiative der Ordensleitung hat der Philosophieprofessor mit zwei Mitbrüdern dazu ein Buch herausgegeben, das Ende November unter dem Titel “Unheilige Macht” erscheint.
(kipa/bal)

2012-11-22 Göttinger Nacht des Wissens

Die Göttinger Nacht des Wissens präsentiert u.a. Jesuitenpater Schneider
zusammen mit seinem Fürsprecher Prof. Freise:
22.11.12 / Dies folgt der Strategie, sich über jegliche Kritik hinwegzusetzen, und zu versuchen den kritisierten Pater schrittweise, nahezu unmerklich wieder hier und da einzusetzen.

Ankündigungstext der Veranstaltung 20-24 Uhr im ZHG-Foyer “Marathon-Workshop zur Spiritualität von Lyrik. Lesungen, Erklärungen, Diskussionen 20–24 Uhr Foyer Welche Rolle spielt Spiritualität für die Lyrik? Dieser Frage gehen wir anhand ausgewählter Dichtungen und Nachdichtungen nach. Die Teilnehmer sind eingeladen, Gedichte, die wir vorstellen, mit viel Pathos oder aber mit “Understatement” vorzutragen und deren Wirkung zu erleben. Dabei kommt auch zur Sprache, dass slawischsprachige Lyrik anders funktioniert als deutsche. Außerdem diskutieren wir in dem Workshop, welche (kulturellen, sozialen, psychischen, religiösen) Funktionen Lyrik haben kann. Prof. Dr. Matthias Freise, Seminar für Slavische Philologie gemeinsam mit Theo Schneider SJ, Jesuitenkommunität Sankt Michael” >Programm

Foto: Pater Theo Schneider liest bei der “Nacht des Wissens” am 24.11.12 was erotisches vor.Bei einem kurzen Besuch schnappten wir beim Eintreffen schon den Satz auf “und er bedeckte sie mit seinen Küssen …” usw.angesichts des ganzen Hintergrundes und der Kritik an Schneiders Umgang mit den Mißbrauchsskandalden gab uns dies einen starken Impuls sofort wieder wegzugehen (auch wenn die Textstelle aus einem erotischen Teil der Bibel gestammt haben könnte)

Freise war Pater Schneider November 2011 in öffentlichen Stellungnahmen beigesprungen
Der Vorsitzende des Pfarrgemeinderates von St. Michael, Matthias Freise, hat das Verhalten des „Eckigen Tisches“, einer Organisation von Missbrauchs-Opfern, kritisiert. Die Organisation hatte die Ernennung des Jesuitenpaters Theo Schneider zum neuen Leiter der Göttinger Jesuitenkommunität, die die Gemeinde St. Michael betreut, als unverantwortlich bezeichnet.” usw. siehe >Zitat GT-Artikel

Dagegen hatte der AStA der Uni Göttingen am 26.7.11 in einer Pressemitteilung Stellung genommen:
Anfang des Monats wurde bekannt, dass der ehemalige Direktor des Aloisiuskollegs in Bad Godesberg, Pater Theo Schneider, zum Leiter der Jesuiten-Kommunität in Göttingen ernannt wurde. (…) Die selbstorganisierte Anlaufstelle „Eckiger Tisch“, für Betroffene von sexueller Gewalt und Missbrauch innerhalb der katholischen Gemeinde und des Jesuitenordens, fordert den Bischof von Hildesheim auf, seine unverantwortliche Entscheidung, Schneider zu benennen, zu überdenken. (…) Im Göttinger Tageblatt vom 22.07.2011 äußerte sich auch der Vorsitzende des Göttinger Pfarrgemeinderats St. Michael und Professor am Seminar für Slawische Philologie Matthias Freise. Dieser nennt die Bedenken “unmenschlich” und spricht von einer Hetzkampagne gegen Schneider. Schneider solle in Göttingen aufgenommen werden, damit er “segensreich wirken kann”. Der AStA der Universität Göttingen bedauert, dass sich Mitglieder der Universität in der Öffentlichkeit derart diffamierend über die Einwände der Betroffenen hinwegsetzen. “Der Vorwurf der Unmenschlichkeit gegenüber den Betroffenen ist höchstgradig geschmacklos und verletzend”, …

22.11.12 // Ende November 2012 erscheint im Buchhandel das Buch “Unheilige Macht. Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise”, Godehard Brüntrup/ Christian Herwartz/Hermann Kügler (Herausgeber), München 2012, 22,90 € in dem noch einmal auf die Vorgänge am Aloisioskolleg des Pater Schneider eingegangen wird. Bespechung am 22.11.12 im >>Bonner Generalanzeiger

Siehe auch den blog https://unheiligemacht.wordpress.com/ mit der Diskussion zu diesem Buch

2012-11-22 kathweb.at

Deutsche Jesuiten ziehen Zwischenbilanz zur Missbrauchskrise

Sammelband “Unheilige Macht” dokumentiert ordensinternen Reflexionsprozess seit Aufdeckung der Skandale im Jänner 2010
Stuttgart, 22.11.2012 (KAP) Die deutschen Jesuiten ziehen in Buchform Zwischenbilanz über die Missbrauchskrise in ihren Reihen. Unter dem Titel “Unheilige Macht” erscheint Ende des Monats im Stuttgarter Kohlhammer-Verlag ein Sammelband, der den ordensinternen Reflexionsprozess seit der Aufdeckung der Skandale im Jänner 2010 dokumentiert. Zu Wort kommen aktuelle und ehemalige Verantwortliche, einfache Mitbrüder, ein Opfer, externe Fachleute und der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann.
Das Buch der drei Herausgeber Godehard Brüntrup, Christian Herwartz und Hermann Kügler listet auf, dass von den 1950er-Jahren bis 2007 insgesamt 60 Jesuiten und 13 ihrer Angestellten mehr als 180 Kindern Gewalt angetan hätten. Faktoren, die Übergriffe in Institutionen des Ordens auf Minderjährige ermöglichten, waren demnach unter anderem ein ausgeprägtes Elitedenken, fehlende Kontrollmechanismen und Defizite im Gemeinschaftsleben der Jesuiten.
Provinzial Stefan Kiechle bilanziert den Stand der Aufklärung, für die der Orden bisher rund eine halbe Million Euro aufgewendet habe. Etwa dieselbe Summe sei insgesamt 105 Opfern als “Anerkennungszahlung” zugesprochen worden. Außerdem habe der Orden Kosten für Therapien und andere Hilfen in Höhe von 50.000 Euro übernommen. “Offene Fragen” gebe es noch rund um das Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg.
Nach den Worten von Mitherausgeber Pater Godehard Brüntrup steht der Orden mit der Bewältigung der Problematik “noch ganz am Anfang”. Schwierig sei insbesondere der Umgang mit den Opfern und der ordensinterne Prozess der Versöhnung.
Den Verantwortlichen seines Ordens, die während der großteils länger zurückliegenden Fälle im Amt gewesen seien, bescheinigt Kiechle überwiegend eine “ernsthafte und ehrliche Gewissenserforschung”. Gleichwohl bleibe einiges “verdrängt und verleugnet”. Auch hegten manche Mitbrüder Groll gegen die früheren Oberen. Die Versuchung sei groß, “das dunkle Kapitel für abgeschlossen zu erklären”.

2012-11-22 homepage der Jesuiten

Unheilige Macht: Godehard Brüntrup SJ im Gespräch

“Wir sind noch ganz am Anfang”, sagt der Münchner Jesuit Godehard Brüntrup zur Aufarbeitung der Missbrauchskrise in seinem Orden. Auf Initiative der Ordensleitung hat der Philosophieprofessor mit zwei Mitbrüdern dazu ein Buch herausgegeben, das Ende November unter dem Titel “Unheilige Macht” erscheint. Mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sprach Brüntrup auch über eigene Versäumnisse.

KNA: Pater Brüntrup, der Missbrauchsskandal liegt fast drei Jahre zurück. Warum jetzt dieses Buch?

Brüntrup: Der Skandal wurde 2010 aufgedeckt. Er ist sicher nicht vorbei für die Betroffenen, solange sie leben. Und die strukturellen Umstände in der Kirche, die dazu führten, dass die Taten so lange verdrängt und vertuscht wurden, sind durch den Prozess der begonnenen Aufarbeitung zwar abgeschwächt, aber immer noch vorhanden.

KNA: Gibt es ein spezifisch jesuitisches Missbrauchsprofil?

Brüntrup: Jesuiten sind nicht besonders demütig. Im Stolz auf die vielen großartigen Persönlichkeiten, die der Orden hervorgebracht hat, sonnt sich jeder von uns gern. So kann man es dann nicht ertragen oder möchte wegschieben, wenn dieses Bild angekratzt wird. Lebenslügen, Naivität und Verdrängung haben bei uns eine Rolle gespielt. Wobei das Problem nicht war, dass man alles genau gewusst hat und das dann unter den Teppich kehrte. Vielmehr wussten unsere Vorgesetzten vor 20,30 Jahren vieles von dem nicht, was wir heute wissen. Aber sie hatten klare Indizien, denen sie nicht nachgingen. Man hat nicht genauer hingeschaut.

KNA: Was noch?

Brüntrup: Typisch jesuitisch ist, dass wir mit einem unglaublich geringen Personalaufwand sehr viel bewerkstelligen. Für diese Effizienz werden wir auch in der Wirtschaft bewundert. Große Werke werden von einer Handvoll Jesuiten geleitet. Die Schattenseite dabei: Wenn etwas schiefläuft, haben wir oft nicht genügend Kontrollmechanismen. Wir gehen davon aus, dass sich unsere Leuten vernünftig verhalten, keine Straftaten begehen, gute Priester und Mitbrüder sind. Wo jemand das nicht war, konnte er sich mit seinen Missetaten in unserem System gut verstecken.

KNA: Die Beiträge im Buch zeugen von anhaltenden Spannungen in Ihrem Orden.

Brüntrup: Zu unserer Provinz zählen rund 400 Brüder mit völlig verschiedenen Biografien. Einige können sicher die brutale Wahrheit, dass so etwas in unserer Gemeinschaft möglich war, noch nicht wirklich an sich heranlassen, weil sie dadurch ihr Lebenswerk gefährdet sehen. Aber auch einzelne Jüngere sagen, was geht uns das an? Als das passierte, waren wir noch gar nicht auf der Welt. Dann gibt es die Generation derer um die 70, die damals Verantwortung trugen, von denen viele bisher nicht in der Lage sind, offen darüber zu sprechen. Und schließlich ist da die bedeutende Gruppe derer, die wegen der Gerechtigkeit Aufklärung und Veränderung aktiv forciert.

KNA: Sie schreiben selbst: “Auch ich habe nicht hartnäckig genug auf Indizien reagiert.”

Brüntrup: Meine Indizien waren nicht eindeutig. Ich denke etwa an die erotisch angehauchten Knabenbilder an den Wänden unseres Internats von Bad Godesberg. Da hätte ich mehr nachhaken müssen. Aber obwohl ich niemals direkt etwas mit Schulen oder außerschulischer Jugendarbeit im Orden zu tun hatte, habe ich doch etwas mitbekommen. Um wie viel mehr muss das für die gelten, die näher dran waren. Deshalb entspricht die gelegentlich zu hörende Rede, man sei völlig überrascht worden, einfach nicht der Wahrheit.

KNA: Ist die Versöhnung mit den Opfern schon gelungen?

Brüntrup: Mitnichten. Wir sind noch ganz am Anfang. In Bad Godesberg gibt es weiterhin offene Fragen. Versöhnung ist ein großes Wort. Es geht darum, ein vertieftes Gespräch zu führen mit den Menschen, die in unseren Institutionen so tief verletzt worden sind. Dieser Prozess hat begonnen, aber er ist unglaublich mühsam. Wir sind weit entfernt von dem, was ich mir wünsche: Nämlich so mit den Opfern zu sprechen, dass wir auch selbst dadurch verwandelt werden, dass die Institution aus ihren Geschichten lernt und sich von dort her erneuert – und nicht von irgendwelcher Geschäftigkeit her, die jetzt unsere Bürokratien mit dem Auflegen von Broschüren, Präventionsprogrammen und Schulungen entwickeln.

KNA: Ist das unwichtig?

Brüntrup: Das nicht. In den USA muss jeder Priester, bevor er in den Beichtstuhl geht, ein Training absolvieren, zu dem auch Gespräche mit Missbrauchsopfern zählen. Ich habe das mitgemacht und sehr viel gelernt. Wobei das Gespräch von Mensch zu Mensch zehnmal so viel wert war wie alle anderen Informationen.

KNA: Was bedeutet der Missbrauchsskandal für die katholische Kirche?

Brüntrup: Er ist eine massive Anfrage an unser Priesterbild. Der Priester ist ein sündiger Mensch wie jeder andere auch. Darüber muss man auch reden können in der Kirche, und zwar nicht nur hinter vorgehaltener Hand. Jesus hat schwache Menschen zu Aposteln berufen. Insofern ist der Mechanismus klerikaler Abschottung bereits Verrat an der Botschaft Jesu. Das Bild des Priesters wurde zur Abstützung hierarchischer Strukturen so idealisiert, dass sich Mehrfachtäter unter ihnen sicher sein konnten, ihnen passiert nichts, weil den Opfern sowieso niemand glaubt. Diese Sakralisierung von Macht zählt zu den katholischen Anteilen an der Missbrauchsproblematik.

2012-11-22 evangelisch.de

Jesuitenorden legt Buch über

Missbrauchsskandal vor

Der Jesuitenorden geht mit einem ersten eigenen Buch über den Missbrauchsskandal in die Öffentlichkeit. Herausgeber des Titels “Unheilige Macht. Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise” sind die Patres Godehard Brüntrup, Christian Herwartz und Hermann Kügler. Das Buch soll am 27. November erscheinen. Es listet Gewalttaten an mehr als 180 Kindern durch insgesamt 60 Jesuiten und 13 ihrer Angestellten seit den 50er Jahren bis 2007 auf.
Betroffen sind fünf Schulen: das Berliner Canisius-Kolleg, das Kolleg St. Blasien, das Bonner Aloisiuskolleg, das Kolleg Büren und die Hamburger St. Ansgar-Schule. Die Herausgeber bewerten das knapp 200-seitige Buch, das dem epd in einem Vorabdruck vorliegt, als keinen Abschlussbericht, sondern “als eine Station auf einem Weg, der noch nicht zu Ende gegangen ist”.

Es gebe “nicht die offizielle Sichtweise des Jesuitenordens”, sondern die Einzelner wider, hieß es weiter. Unter den 18 Autoren sind die jesuitische Missbrauchsbeauftragte Ursula Raue, der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann, und der ehemalige Jesuitenprovinzial Pater Stefan Kiechle. Pater Johannes Siebner, heutiger Rektor des Aloisiuskollegs, sagte am Mittwochabend dem epd, der Band sei “ein erster öffentlicher Schritt der Reflexion aus Sicht des Ordens.” Die Opfergruppen reagierten bislang verhalten.

2012-11-22 Domradio Köln

Jesuitenorden legt Buch über Missbrauchsskandal vor

Der Jesuitenorden geht mit einem ersten eigenen Buch über den Missbrauchsskandal in die Öffentlichkeit. Herausgeber des Titels “Unheilige Macht. Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise” sind die Patres Godehard Brüntrup, Christian Herwartz und Hermann Kügler. Das Buch soll am 27. November erscheinen. Es listet auf, dass seit den 50er Jahren bis 2007 insgesamt 60 Jesuiten und 13 ihrer Angestellten mehr als 180 Kindern Gewalt angetan hätten. Betroffen sind fünf Schulen: das Berliner Canisius-Kolleg, das Kolleg St. Blasien, das Bonner Aloisiuskolleg, das Kolleg Büren und die Hamburger St. Ansgar-Schule. Das Buch gebe “nicht die offizielle Sichtweise des Jesuitenordens”, sondern die Einzelner wider, hieß es weiter. Unter den 18 Autoren sind die jesuitische Missbrauchsbeauftragte Ursula Raue, der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann, und der ehemalige Jesuitenprovinzial Pater Stefan Kiechle. Pater Johannes Siebner, heutiger Rektor des Aloisiuskollegs, sagte der Band sei “ein erster öffentlicher Schritt der Reflexion aus Sicht des Ordens.” Die Opfergruppen reagierten bislang verhalten.

( epd )

Wie deutsche Jesuiten den Missbrauchsskandal bearbeiten

Kein Abschlussbericht

Es ist kein Abschlussbericht, sondern eher eine Baustellenbeschreibung – in Buchform bilanzieren die deutschen Jesuiten, wie sie seit Januar 2010 mit dem Thema Kindesmissbrauch ringen. Die damals von Berlin ausgehend bekanntgewordenen Fälle massenhafter Übergriffe lösten eine in Deutschland bisher beispiellose Enthüllungslawine aus.

Der nun im Kohlhammer Verlag erscheinende Sammelband zeugt von einem mühsamen Reflexionsprozess. Dabei verfolgt er vor allem ein Ziel: Er will der Versuchung vorbeugen, das dunkle Kapitel für abgeschlossen zu erklären. Diese Versuchung sei groß, räumt Provinzial Stefan Kiechle in seinem Beitrag freimütig ein.

Zwischen Rechenschaftsbericht und Ursachenanalyse
Eine Stärke des Buches sind die unterschiedlichen Perspektiven und auch Genres der Kapitel, die zwischen Rechenschaftsbericht, (Selbst)-Anklage und Ursachenanalyse angesiedelt sind: Zu Wort kommen aktuelle und ehemalige Verantwortliche, einfache Mitbrüder, externe Fachleute, wenigstens ein Opfer. Die Herausgeber, ein Münchner Professor für Metaphysik, ein Berliner Arbeiterpriester und ein Leipziger Pastoralpsychologe, legen aber auch offen, was fehlt: Ein Täter ist nicht unter den Autoren. Nach der Lektüre wäre zu ergänzen: Auch die Jesuiten, die von dem Thema genug haben, kommen nur indirekt vor.

Missbrauch gab es nicht nur bei den Jesuiten, sondern auch an anderen pädagogischen Einrichtungen. Doch in dem Buch wird vor allem nach dem ordenseigenen Anteil an den Übergriffen geforscht. Die für Jesuiten typische Erfolgskultur habe es verhindert, persönliche Abgründe in den Blick zu nehmen, heißt es etwa. Von Lebenslügen ist die Rede, und von fehlenden Kontrollmechanismen. Die Serientäter seien ausgesprochene Einzelkämpfer gewesen. Diese – durchgehend dominante Persönlichkeiten – hätten Burgen um sich herum errichtet und sich so unangreifbar gemacht. Dass dies zugelassen worden sei, stehe im Widerspruch zur Ordensregel.

“Wirklichkeit des Bösen” nicht ernstgenommen
Rolf D. Pfahl, der Ende der 1970er Jahre Rektor am Berliner Canisius-Kolleg und danach sechs Jahre norddeutscher Provinzial war, rätselt noch immer, warum er die “deutlichen Signale” in Richtung Missbrauch einfach nicht wahrnahm. Es sei ihm bis heute unverständlich. Dass es in Jesuiteneinrichtungen Täter und Opfer geben könnte, erschien ihm damals so weit weg “wie die Existenz eines Kaisers von China”. Die “Wirklichkeit des Bösen innerhalb der Kirche selbst” habe keiner ernstgenommen.

Mitherausgeber Godehard Brüntrup mag sich mit solchen theologischen Erklärungen nicht begnügen. Mehrfach hätten sich Betroffene an Ordensobere gewandt, ohne Gehör zu finden, und auch Mitbrüder, die kritische Fragen gestellt hätten, seien bisweilen “diffamiert und mundtot gemacht worden, solange sie sich im Einflussbereich der Täter befanden”.

Dass bis 2010 niemand in seinem Orden den entscheidenden Satz “ich glaube Dir” zu den Opfern habe sprechen können, diese Einsicht aus dem Skandal lege sich ihm “bleischwer auf die Seele”, schreibt der Jesuit. “Man möchte dann am liebsten all die schönen Bücher über ignatianische Pädagogik einfach zuklappen, und die Läden dichtmachen.”

Von einer echten Versöhnung mit den Opfern sieht Brüntrup seinen Orden noch weit entfernt, wenn es denn überhaupt eine geben kann. Jedenfalls sei der Weg dorthin “unendlich weit”. Sein Provinzial verweist darauf, dass diesen Schritt nur die Opfer selbst gehen könnten – “aus freien Stücken”. Und wenn sie das nicht täten, “müssen wir das schmerzhaft aushalten”.

Hinweis: Godehard Brüntrup, Christian Herwartz, Hermann Kügler (Hrsg.), “Unheilige Macht. Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise, Kohlhammer Verlag Stuttgart, 202 Seiten, 22,90 Euro.

( Christoph Renzikowski / kna )

2012-11-22 Bonn Generalanzeiger

“Unheilige Macht” ist eine Aufarbeitung der Missbrauchsfälle des Ordens

Ako-Skandal: Jesuiten-Buch nennt erstmals Täternamen

Von Ebba Hagenberg-Miliu

Bonn.  Dieses Buch ist eine Qual. Es handelt vom “Schwefelgeruch katholischen Missbrauchs”, sagt Herausgeber Pater Godehard Brüntrup. Es heißt “Unheilige Macht. Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise”, und es ist ein wichtiges Buch: Zum ersten Mal seit Bekanntwerden des Skandals im Jahr 2010 betreibt der Orden eine öffentliche Aufarbeitung.

Die Jeremias-Statue vor der Ako-Kirche ähnelt dem Ex-Schulleiter Ludger Stüper. Foto: Friese

Mögen zuvor Kommissionen, wie es im Buch heißt, bis ins Mark erschütternd zusammen-getragen haben, wie 60 Jesuiten und 13 ihrer Angestellten mehr als 180 Kinder durch Gewalt fürs Leben brandmarkten. Mit diesem Buch ziehen jesuitische Herausgeber eine erste Bilanz. Fragmentarisch zwar, wie sie zugeben, ohne jeden Textbeitrag eines Täters.

Nur ein Berliner Opfer war überhaupt bereit, sich zu beteiligen. Und das Buch sei zudem unbefriedigend, was das Aloisiuskolleg (Ako) in Bad Godesberg betreffe: Es ende mit dem Stand von 2007. Trotzdem bemerkenswert, zu welchen selbstkritischen Äußerungen die Jesuiten nun öffentlich bereit sind.

Wenngleich auch Rettungsschirme für Patres gespannt werden, die heute noch zur Rechenschaft gezogen werden könnten: Die 15 Autoren schrieben “nicht die offizielle Sichtweise des Ordens”, betont der Herausgeber. Sie böten nur “eine Station” auf dem Weg. Und genau da stellt sich das Ako als die noch heute blutende Wunde im Skandal heraus.

Erstmals überhaupt werden im Buch Namen genannt: Haupttäter der letzten 40 Jahre war Pater Ludger Stüper, der “nach Gutsherrenart” herrschende Ako-Internats- und Schulleiter (1974-1992) persönlich. Der 2010 Verstorbene habe seine “erotischen Begierden auf Kosten minderjähriger Schutzbefohlener” strafrechtlich relevant ausgelebt.

Es habe Schülerselbstmorde gegeben. “Ein pädophiles Himmelreich” habe der Mann aufbauen können, dessen Züge denen der in seiner Ära beschafften und heute noch vor der Ako-Kirche stehenden Jeremias-Statue so “auffällig ähnlich” seien.

Dass sein Nachfolger Pater Theo Schneider, der 2010 zurücktrat, auch bei Stüpers Nackturlauben mit “schönen Schülern” dabei war und als verantwortlicher Internatsleiter nicht einschritt, verzeichnet ein Beitrag, “der auf Wunsch der Ordensleitung mehrfach überarbeitet” wurde.

Vieles davon sei dem Orden durch Eltern- und interne Beschwerden bekannt gewesen. Aber es sei bis zum Schluss vertuscht worden. Schneider ist heute Superior der Jesuiten in Göttingen.

Im Buch steht auch seine Äußerung, dass er Pater Stüper “gewarnt habe, die Dinge nicht zu weit zu treiben”. Es zieht die Parallele, dass auch am lange Jahre von Stüper und Schneider mitverantworteten Ako-pro-Seminar nicht hingeschaut wurde, was Kindern geschah.

Es zieht jedoch dann keine praktischen Konsequenzen. Alle Taten seien “durch strukturelle Faktoren begünstigt” gewesen, heißt es in dem Buch. Genau da liege “das Hardware-Problem”. An die Struktur müssten die Jesuiten nun endlich ran.

“Unheilige Macht. Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise”, Godehard Brüntrup/ Christian Her-wartz/Hermann Kügler (Herausgeber), München 2012, ist ab Ende November für 22,90 Euro im Buchhandel erhältlich.

Das sagen…
Betroffenengruppe Eckiger Tisch:
“Das Buch zeigt gute Ansätze. Die Ordensleitung schweigt aber zu Konsequenzen und schickt Subalterne vor. Es scheint, als ob der einzige direkte Artikel zum Ako nachträglich geschönt werden musste. Auch das Machtgefälle Täter/Opfer bleibt bis heute.”

Betroffenengruppe Ako-pro-Seminar: “Die Jesuiten beschäftigen sich wieder einmal mit ihrer eigenen Befindlichkeit. Die Vorgänge im Ako bleiben unbewältigt. Gutachten kosten mehr als Entschädigungen. Der Hochmut der Macht schaut auf die Opfer herab und noch mehr an ihnen vorbei.”

Ako-Rektor Johannes Siebner: “Das Buch ist eine Baustelle, kein Strich-drunter-Buch. Es ist ein erster öffentlicher Schritt der Reflexion aus Sicht des Ordens. Damit kann es ein weiterer Schritt sein für Aufklärung, Anerkennung und weiteren Dialog. Aus der Perspektive des Ako kommt das Buch zu früh. Wir sind noch mittendrin in der Aufklärung und warten auf den Bericht von Arnfried Bintig.”

2012-11-22 Kölner- Stadtanzeiger

„Ein pädophiles Himmelreich“

Der Jesuitenorden geht mit einem eigenen Buch über den Missbrauchsskandal in die Öffentlichkeit. Das Buch „Unheilige Macht” untersucht auch die Vorfälle am Bonner Aloisiuskolleg – und benennt erstmals einen Haupttäter.

Der Jesuitenorden wird am 27. November mit einem ersten eigenen Buch über den Missbrauchsskandal in die Öffentlichkeit gehen. Herausgeber des Titels „Unheilige Macht. Der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise“ sind die Patres Godehard Brüntrup, Christian Herwartz und Hermann Kügler. Das Buch listet auf, dass seit den 50er Jahren bis 2007 insgesamt 60 Jesuiten und 13 ihrer Angestellten mehr als 180 Kinder durch Gewalt fürs Leben gebrandmarkt hätten. Der Skandal betrifft fünf Schulen: das Berliner Canisius-Kolleg, das Kolleg St. Blasien, das Bonner Aloisiuskolleg, das Kolleg Büren und die Hamburger St. Ansgar-Schule.

Pater Ludger am Pranger

Im Buch nennen die Jesuiten nun erstmals auch den Haupttäter am Bonner Aloisiuskolleg der letzten 40 Jahre: Pater Ludger Stüper, der „nach Gutsherrenart“ von 1974 bis 1992 als Internats- und Schulleiter geherrscht habe. Der 2010 Verstorbene habe seine „erotischen Begierden auf Kosten minderjähriger Schutzbefohlener“ ausgelebt, schreibt Pater Georg Maria Roers. Es habe Schülerselbstmorde gegeben.

„Ein pädophiles Himmelreich“ habe der Mann aufbauen können, erläutert Matthias Katsch. Stüpers Nachfolger Pater Theo Schneider, der 2010 als Rektor zurücktrat, sei für einiges „Mitwisser“ gewesen, schreiben mehrere Autoren. Pater Schneider ist heute Superior der Göttinger Jesuiten. Vieles sei der Ordensleitung durch Eltern- und interne Beschwerden bekannt gewesen. Aber es sei bis zum Ausbruch des Skandals vertuscht worden.

Die Herausgeber bewerten das knapp 200-seitige Buch, das dem epd in einem Vorabdruck vorliegt, als keinen Abschlussbericht, sondern „als eine Station auf einem Weg, der noch nicht zu Ende gegangen ist“. Es gebe auch „nicht die offizielle Sichtweise des Jesuitenordens“, sondern die Einzelner wider. Es führt aber nach Worten des Münchener Philosophieprofessor Pater Godehard Brüntrup aber das weiter, was man die „kopernikanische Wende“ von der Täter- zur Opferperspektive bezeichnen könne.

Mitherausgeber Brüntrup sieht das Buch als „Baustelle“ mit inneren Widersprüchen an. Es enthält keinen einzigen Täterbericht. Und nur ein Opfer war bereit, sich zu beteiligen. Unter den 18 Autoren sind unter anderem die jesuitische Missbrauchsbeauftragte Ursula Raue, der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann, und der ehemalige Jesuitenprovinzial Pater Stefan Kiechle.

Die Last der Vergangenheit

In dem Bonner Aloisiuskolleg sei auch heute „keineswegs alles erledigt“, heißt es. Die Aufklärung sei hier wegen laufender Verfahren noch immer nicht abgeschlossen. „Die Last der Vergangenheit belastet die Schule, den Orden und an erster Stelle die betroffenen Opfer bis heute.“ Pater Johannes Siebner, der heutige Rektor des Aloisiuskollegs, sagte am Mittwochabend dem epd, der Band sei auf keinen Fall ein „Strich-drunter-Buch“. Es sei „ein erster öffentlicher Schritt der Reflexion aus Sicht des Ordens.“

„Aus der Perspektive des Alosiuskollegs kommt das Buch zu früh. Wir sind ja noch mittendrin in der Aufklärung“, räumte er ein. Man warte auf die Ergebnisse des zweiten Aufklärungsberichts, der Anfang 2012 bei Professor Arnfried Bintig in Auftrag gegeben wurde. Gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des Aloisiuskollegs wird noch wegen möglichen Missbrauchs und schweren Betrugs ermittelt.

Die Opfergruppen reagierten verhalten. „Dieses Buch zeigt gute Ansätze. Die Ordensleitung schweigt aber zu den Konsequenzen und schickt Subalterne vor“, sagte der Eckige Tisch Bonn, die Gruppe der direkt am Aloisiuskolleg Betroffenen. „Auch das Machtgefälle Täter Opfer bleibt bis heute.“ Die Jesuiten beschäftigten sich wieder einmal mit ihrer eigenen Befindlichkeit, kommentiert die Bonner Gruppe der Betroffenen des Ako-pro-Seminars: „Die Vorgänge im Ako bleiben unbewältigt. Gutachten kosten mehr als Entschädigungen. Der Hochmut der Macht schaut auf die Opfer herab und noch mehr an ihnen vorbei.“

Alle Taten innerhalb der jesuitischen Kollegs seien „durch strukturelle Faktoren begünstigt“ gewesen, kommentiert Pater Patrick Zoll. Genau da liege „das Hardware-Problem“. Die Jesuiten müssten „die strukturellen Risikofaktoren“ für den Missbrauch identifizieren und Konsequenzen ziehen. Aber sie müssten auch endlich selbst aktiv auf die Opfer zugehen, schreibt Herausgeber Brüntrup. „Ernste Versuche“ von Ordensbrüdern seien da „selten“. (epd)

2012-11-15 ZEITmagazin

Katholische Kirche Der Weggelobte

Pater Klaus Mertes machte einen der größten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche öffentlich. Sie schickte ihn in den Schwarzwald. Ein Besuch im Exil

© Winfried Rothermel/dapd

Pater Klaus Mertes

Pater Klaus Mertes

Als Klaus Mertes im Frühjahr den Bürgerpreis der SPD entgegennahm, blitzte ein kleines silbernes Kreuz am Revers seines Anzugs. Es hatte die Größe eines Manschettenknopfes und war kaum zu sehen. Der Jesuitenpater hatte das minimalistischste Symbol gewählt, das ihm als Verweis auf sein Priesteramt zur Verfügung steht. Man musste genau hinschauen, um ihn als Mann der Kirche zu erkennen.

Mit dem Preis zeichnet die SPD Zivilcourage aus und Skepsis gegen jede Art von Obrigkeit. Parteichef Gabriel pries in seiner Laudatio den Mut, mit dem der Jesuitenpater und Rektor Anfang 2010 sexuellen Missbrauch in seiner Schule, dem Berliner Canisius-Kolleg, öffentlich gemacht hatte: »Er hat Verantwortung für jahrelanges Schweigen und Vertuschen übernommen.« Dann trat Mertes in der Parteizentrale ans Rednerpult. Für ihn sei dieser Preis wie ein Stück Brot auf einer langen Wanderung, die noch lange nicht zu Ende sei. Der 58-Jährige ist ein hervorragender Redner, er sprach frei und leidenschaftlich. Am Ende seiner Ansprache hob er die Stimme. »Was ist los bei uns im Land, wenn das Selbstverständliche gepriesen werden muss?«, rief er. »Und was ist los in der katholischen Kirche, wenn das Nestbeschmutzung genannt wird?« Die Gäste klatschten begeistert. Viele katholische Laienfunktionäre waren gekommen, auch Schüler und Eltern des Kollegs, das Mertes bis zum Sommer letzten Jahres geleitet hat. Richard von Weizsäcker war da. Sogar einige der ehemaligen Schüler, die sexuell missbraucht worden waren, zollten Mertes Respekt. Vom Erzbistum Berlin kam niemand. Kein Kirchenfunktionär klatschte ihm Beifall, keiner hörte ihm zu.

Vergangenen Herbst ist Klaus Mertes von Berlin nach St. Blasien gezogen, in ein schattiges Tal im Schwarzwald, wo man hinter jeder Wegbiegung gegen eine Felswand läuft. Dort hat ihn sein Orden zum Leiter des Jesuitenkollegs ernannt. Ursprünglich habe man ihn für eine andere Position im Orden vorgesehen gehabt, heißt es. Er war als Provinzial im Gespräch – als Oberster der rund 450 Jesuiten in Deutschland. Doch dann machte er im Januar 2010 Hunderte Fälle sexuellen Missbrauchs von Schülern durch zwei Patres am Canisius-Kolleg öffentlich. Der Brief, in dem er ehemalige Schüler aus den siebziger und achtziger Jahren aufforderte, ihm über ihre Erfahrungen zu berichten, löste im ganzen Land eine Aufklärungswelle auswischen hat die Deutsche Bischofskonferenz den Opfern eine Entschädigung von je 5000 Euro angeboten. Die Täter können strafrechtlich nicht mehr belangt werden, die Fälle sind verjährt. Beide haben den Orden Ende der achtziger Jahre verlassen.

Die Enthüllungen zeigten, wie sehr die Kirche durch jahrelanges Schweigen ihre Täter schützte. Nicht einmal die Selbstanzeige eines Paters war zum Anlass genommen worden, einzuschreiten und die Schüler vor weiteren Übergriffen zu bewahren. Indem er solche Vorgänge nicht wie bisher intern regelte, sondern vor aller Welt zum Thema machte, brach Mertes ein Tabu. Mit seiner Entschiedenheit hat er es geschafft, diese 2000 Jahre alte Institution aufzurütteln, wie es lange niemandem gelungen ist. Nach weltlichen Maßstäben hat er das Zeug zum Volkshelden. Aus der Perspektive der Kirchenhierarchie ist er ein Rebell. Einer, den sie jetzt in den Wald geschickt haben, nach St. Blasien. Zufall? Absicht? Und wie sieht es Mertes selbst?

Nackte Granitwände umrahmen das Schwarzwaldstädtchen, goldglänzend ragt die Kuppel des Domes aus dem Kurort. Das Kolleg ist in einer ehemaligen Benediktinerabtei untergebracht. Im Treppenhaus des Hauptgebäudes riecht es nach Bohnerwachs und Gemüseeintopf. Im geräumigen Büro des Kollegsdirektors hängen abstrakte Kunst und eine Kuckucksuhr. Bücher über Pädagogik und Religion liegen herum, ein Messbuch ist aufgeschlagen. Ein paar Jungs spielen Fußball im Hof. »Ich kann nicht bestätigen, dass ich höher in die Ordensleitung aufgestiegen wäre. Es hätte sein können. Hätte aber auch sein können, dass ich in die Priesterausbildung gegangen wäre oder auf einen Posten in Rom«, beantwortet Mertes die Frage, wie seine Karriere wohl verlaufen wäre, hätte er nicht die Kirche in Aufruhr versetzt.

Der Dom mit Basilika in St. Blasien

Der Dom mit Basilika in St. Blasien

Nicht, dass der Pater all die Jahre zuvor konform gewesen wäre. Immer wieder hat er Reizthemen besetzt, hat beispielsweise an seiner Schule Kinder aufgenommen, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben. Oder Mitbrüder darin unterstützt, der Kirche ihre Homosexualität zu offenbaren. Als der Papst die ultrakonservative Piusbruderschaft wieder in die Kirche aufnahm, erklärte Mertes in seiner Predigt, warum er das für einen großen Fehler hielt. Mit solchen Aktionen hat er sich Feinde gemacht. Katholische Fundamentalisten setzen das Wort »Aufklärer« im Zusammenhang mit Mertes gern distanzierend in Anführungszeichen oder bezeichnen ihn spöttisch als »modernistischen Geistlichen«. Ihm gehe es darum, eine »Propaganda-Lawine gegen die eigene Kirche loszutreten, um diese dann erfolgreicher mit seinen progressistischen Forderungen behelligen zu können«, beziehungsweise »sich als Medienstar feiern zu lassen« – so zwei typische Kommentare aus dem extremistischen Internetpokal kreuz.net.s’ Kritiker bevorzugen die schriftliche Form, konfrontiert wird er selten. Man straft den unbequemen Kirchenmann indirekt ab. So lud ihn seine Diözese beim Papstbesuch vorigen Herbst zur offiziellen Begegnung mit Kirchenleuten im Freiburger Konzerthaus gar nicht erst ein. Mertes besuchte dann die heilige Messe auf dem Flughafengelände auf eigene Faust. Als er da auf dem Feld gestanden habe, erinnert er sich, habe ihn jemand gefragt, ob er Pater Mertes sei. Dann habe der Fremde ausgespuckt und sei weitergegangen. Es bleibt offen, wofür der Mann ihn verabscheut. Assoziiert er ihn mit den Missbrauchstätern? Verachtet er ihn als Nestbeschmutzer? Mertes hat sich auf beiden Seiten angreifbar gemacht, drinnen und draußen. »Weil ich die Täterseite repräsentiere und mich dazu bekenne, bin ich auch eine Projektionsfläche für Kirchenhasser«, sagt er. Er klingt nicht bitter dabei.

Klaus Mertes besitzt Qualitäten, mit denen man es in der Welt ganz nach oben bringen kann: Er ist klug, eloquent, beharrlich, entschlossen. Auf manche wirkt er einschüchternd und ein bisschen überheblich. Er bewegt sich schnell, seine Schritte holen weit aus, nicht jeder kann ihm folgen. Seine Ziele verfolgt er kompromisslos. Mehrfach benutzt er im Gespräch die Formulierung, jemand könne ihm den Buckel runterrutschen, zum Beispiel wenn die Rede auf »turbokatholische Eltern« kommt, die sich etwa an seiner liberalen Position zu Verhütungsmitteln stoßen. Es kommt vor, dass der Schulleiter solchen Eltern sagt, sie könnten ihn gern beim Heiligen Vater anzeigen. Und sich vermutlich denkt: Rutsch mir den Buckel runter.

Man kann sich gut vorstellen, dass so einer seine Vorgesetzten permanent reizt. Gefragt, ob die Kirche ihn abstrafe, lacht Mertes und sagt: »Taktvoll ausgedrückt würde ich sagen: Die Kirche könnte mich für ihre Öffentlichkeitsarbeit viel besser nutzen.«

»Aber niemand tut es. Weil Sie zu unbequem sind? Zu unberechenbar?«

»Das müssen die mir schon selbst sagen.«

»Es spricht aber keiner mit Ihnen, oder?«

»Nee.«

Missbilligung erfahre er allenfalls auf Umwegen, sagt er. Etwa wenn ein örtlicher Pfarrer ihn von einer Veranstaltung wieder ausladen müsse, nachdem die Bistumsleitung gegen seine Teilnahme interveniert habe. Oder als die Bischofskonferenz die Entscheidung eines kirchlichen Verbandes abgelehnt habe, ihn als geistlichen Berater anzuheuern.

Im Jahr 2010, als die Missbrauchsfälle öffentlich wurden, traten 180.000 Katholiken aus der Kirche aus. Das waren 40 Prozent mehr als im Vorjahr. Nicht erst jetzt spricht man von einer Kirchenkrise – schon seit gut 30 Jahren driften die alltäglichen Anforderungen an Geistliche und die Kirchendoktrin immer weiter auseinander. Alarmiert durch die Austrittswelle, sucht die Deutsche Bischofskonferenz nun den Dialog mit ihren Gläubigen. Den Auftakt bildete letztes Jahr ein Kongress in Mannheim, wo 300 Entsandte aus Diözesen, Orden und Hochschulen miteinander diskutierten. Doch ausgerechnet der Mann, der den Missbrauch offengelegt hat, wurde vom Dialog ausgeschlossen. Matthias Kopp, Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, wirkt genervt, wenn man ihn nach den Gründen fragt. »Mannheim war die Auftaktveranstaltung eines auf vier Jahre angelegten Dialogprozesses. Es ging bei dem Kongress nicht um das Thema Missbrauch«, sagt er. »Es gibt Tausende von Leuten, die man einladen kann«, setzt er unwirsch hinzu. Auch zur »Internationalen Konferenz über sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in der katholischen Kirche« letztes Jahr in Rom war Mertes nicht geladen. Was bedeutet das für ihn? Er zögert, bevor er antwortet. »Erstens sage ich dazu nur etwas, wenn ich gefragt werde. Ich möchte kein Schimpfer werden. Einer, der sich dauernd mit seinen Kränkungen beschäftigt. Obwohl natürlich manches kränkend ist, was ich gerade erlebe.«

Warum er angesichts dieser Erfahrungen noch katholisch ist? »Die Kirche ist für mich viel weniger als früher Selbstzweck geworden. Sie ist das Volk Gottes. Den Katholizismus mit einem sehr engen Loyalitätsverständnis gegenüber Hierarchien kann ich nicht teilen.«

»Man hat den Eindruck, Sie sind in Ihrer Spiritualität bestärkt worden.«

»Ich bin frömmer geworden. Ich bete mehr.«

»Warum sind Sie Christ?«

»Weil mich das Evangelium anzieht, weil es mir vor allem um die Frage nach Gott geht.«

Klaus Mertes bezeichnet sich selbst als klassisch katholisch und konservativ. Den tieferen Grund für die Unbeweglichkeit der Kirche vermutet er in einem »falschen Traditionsverständnis«, das vor allem an Sicherheitsdenken orientiert sei – für ihn »zutiefst areligiös«. Er selbst, davon ist er überzeugt, handle ganz im Interesse der Kirche und ihrer christlichen Botschaft. Umso mehr schmerzen ihn die Unterstellungen. »Diejenigen, die mir Nestbeschmutzung vorwerfen, sehen ja meine Loyalität mit der Kirche gar nicht. Wenn das aus der Hierarchie kommt, ist es bitter und tut weh.« Dennoch empfindet er den Missbrauchskongress in Rom als »Sensation«, weil sich dort erste Lücken in der Wagenburgmentalität der Kirche gezeigt hätten. Eine Frau, die vor Jahren von einem katholischen Priester missbraucht worden war, erzählte ihre Leidensgeschichte – und über 100 Bischöfe mussten zuhören. So viel Offenheit gab es vorher nicht. Und trotzdem wird einer wie Mertes geschnitten.

Sucht man bei Kirchenleuten nach Erklärungen für die Sprachlosigkeit, erhält man ausweichende Antworten. Vom »jahrhundertealten Beichtgeheimnis« ist dann die Rede, vom Wert »klösterlichen Schweigens«. Als seien Mertes’ Kreuzzug für Transparenz und die Überdiskretion der Institution unvereinbare Gegensätze. Einer, der nicht namentlich zitiert werden will, sagt: »Wir leiden in der Kirche an der überproportionalen Wahrnehmung prominenter Gestalten.« Wer wie Mertes draußen in der Welt Popularität genießt, macht sich der Eitelkeit verdächtig.

Bis heute hat niemand aus der Kirchenhierarchie den Dialog mit Klaus Mertes gesucht. Lediglich der Wiener Kardinal Schönborn lud ihn im Oktober 2010 in den Stephansdom ein, um vor 1500 Mitgliedern der Diözese über seine Erfahrungen mit dem Missbrauchsskandal zu sprechen. Heißt das, im Umgang mit Dissidenten führt die Kirchenleitung einfach ihre jahrhundertealte Praxis fort, Unangenehmes hinter verschlossenen Türen zu verhandeln? Wie ernst ist es ihr tatsächlich mit Reformen? Mertes springt an diesem Punkt des Gesprächs auf und läuft zum Schreibtisch. Er sucht am Computer nach einem Interview mit einem Bischof, in dem unterstellt wird, interne Kirchenkritiker hätten gar kein echtes Interesse am Dialog mit der Führung, sondern äußerten Kritik vorzugsweise über die Öffentlichkeit. »Denunziatorische Fragesteller und ängstliche Bischöfe!«, ruft Mertes hinterm Bildschirm hervor. »Das ist erschütternd! In katholischen Medien darf inzwischen widerspruchslos behauptet werden, der Missbrauchsskandal werde von Jesuiten und einigen deutschen Bischöfen schamlos dazu ausgenutzt, eine kirchenpolitische Reformagenda durchzusetzen.« In seiner Wahrnehmung ist das Klima innerhalb der bedrängten Kirche dabei, in Aggressivität zu kippen. »Der Hass auf Bischöfe, die wirklich zuhören und sich dann nachdenkliche Fragen stellen, wird größer.«

Klaus Mertes ist keiner, der sich als »Kirchenkritiker« in Talkshows setzt. Öffentlich redet er nur, wenn er dazu aufgefordert wird. Eine Initiative wie die in Österreich, wo einige Hundert Priester einen viel beachteten »Aufruf zum Ungehorsam« formuliert haben, würde er weder gründen noch führen. Die österreichischen Reformer sind durchschnittlich 60 Jahre alt, also keine jungen Wilden. Sie haben öffentlich erklärt, in ihren Gemeinden künftig niemandem die heilige Kommunion zu verweigern – nicht den geschiedenen Wiederverheirateten, nicht den Mitgliedern anderer Kirchen. Wut und Verzweiflung müssen groß sein, wenn jemand seine über Jahrzehnte eingeübte Folgsamkeit so demonstrativ überwindet.

Mertes ist ein leiser Mensch, kein Aufwiegler. Seine Grundhaltung ist eine religiöse und damit eine betrachtende. Jeden Abend vor dem Schlafengehen frage er sich: Was hat mich heute erfreut? Was hat mich bewegt, was bringt Erkenntnis? Bei den Jesuiten heißt das »Übung der Dankbarkeit« oder »geistliches Tagebuch«. Seit Januar 2010 hat er über 400 Seiten notiert. Die wertet er jetzt aus. »Emotional am anstrengendsten sind die Berichte der Opfer. Zu hören, was Vertrauensmissbrauch bei Menschen anrichtet – im Vergleich dazu ist das gegenwärtige Imageproblem der Kirche ein Witz.«

Mertes hält die Kirchenkrise für eine Prüfung, an der die Institution gewaltig wachsen kann. Eine Probe, ob sie ihre eigene Botschaft tatsächlich glaubt: »dass Gott zur Kirche steht, auch dann, wenn sie Sünderin ist«. In Reformen übersetzt hieße das: »Mehr Fähigkeit zur Selbstkritik und weniger Pomp. Die Überwindung des Zentralismus. Und dass Katholiken, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, keine Angst vor Diskriminierung haben müssen.«

Es klopft. In der Tür stehen ein Teenager und seine Mutter. Der Junge blickt verlegen zu Boden. Mertes zieht sich zum Bewerbungsgespräch mit den beiden zurück. Eigentlich möchte ihr Sohn die Schule gar nicht wechseln, erzählt die Mutter später, es sei der Wunsch des Vaters, selbst ehemaliger Schüler des Kollegs. Er solle mal überlegen, wie schwer ihm ein späterer Wechsel fiele, wenn er erst eine Freundin habe, gibt Mertes dem Jungen mit auf den Weg.

Spätabends, nach einem Essen im Kreis einiger älterer Patres, setzt Mertes das Interview fort. Draußen ist es dunkel. Aus den offenen Fenstern der Schülerzimmer hört man Adele und Rihanna.

»Bedeutet Ihre neue Aufgabe einen Rückzug vom Rebellentum?«

Mertes lacht. »Ich bin ja noch nicht am Ende.«

»…aber hier im Schwarzwald!«

»Mir tut diese Umgebung gut. Als der Rummel vorbei war, bin ich in ein Loch gefallen. Ich wusste an manchen Tagen gar nicht, wie ich aufstehen und den Tag überstehen soll. Ich habe eine Erschöpfungsdepression hinter mir. Radikalität hin oder her – Selbstschutz hat Vorrang.«

»Ihr Amt als Kollegsdirektor in St. Blasien ist auf zehn Jahre angelegt. Das heißt, wenn Sie hier aufhören, sind Sie…«

»…66.«

»Dann ist das jetzt vermutlich Ihre letzte Position?«

»Ja.« Er stutzt. »Ja, ja. Aber ich werde ja nicht von der Bühne verschwinden.«

»Hier im Schwarzwald haben Sie kaum eine Bühne…«

»Ich finde, das ist ein guter Test: Ist das, was ich zu sagen habe, interessant, wenn ich in St. Blasien bin? Oder hängt das Interessantsein daran, dass ich in Berlin bin? Dann will ich nicht interessant sein.«

»Wie haben die vergangenen zweieinhalb Jahre Sie verändert?«

»Ich kann noch besser als früher mit Einsamkeit umgehen. Kann das Alleinsein des Lehrers gut aushalten und brauche immer weniger die narzisstische Bestätigung. Ich habe viel Eitelkeit hinter mir gelassen.«

Mertes sagt, er habe in seinem Orden viele Verbündete. Auch darüber hinaus, etwa im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Katholische Verbände hätten angefragt, ob er die geistliche Leitung übernehmen könne. »Das sind große Vertrauenssignale. Überhaupt gibt es immer mal wieder Bemerkungen, aus denen ich schließe, dass viele mich im Stillen unterstützen.«

Zum Abschied bringt er die Besucherin zur Hauptstraße. Vorbei am Dom, über den Fluss, die mächtige Felswand im Rücken. »Grüßen Sie Berlin!«, ruft er, dreht sich um und eilt zurück. Ein paar Wochen nach dem Interview kommt eine Initiative ins Rollen: Rund 200 Pfarer üben öffentlich Ungehausam, indem sie in ihren Gemeinden geschiedene Wiederverheiratete zur Kommunion zulassen. Sie kommen aus der Diözese Freiburg. Es sieht so aus, als sei Pater Mertes doch am richtigen Ort.

2012-11-13 Das ist zuviel

77 916 Opfer von Gewalttaten in einem Jahr in Berlin

Tag als in Oslo bekannt gegeben wurde, dass die Europäische Union den Friedens-nobelpreis bekommt, haben sie in Berlin zum ersten Mal einen „Opfer-Beauftragten“ ernannt. Das war Zufall. Berlin ist auch die einzige Stadt in Deutschland, die so etwas hat: einen Opfer-Beauftragten.
Während also Angela Merkel „wunderbare Entscheidung“ rief, und die Kommentatoren ausrechneten, wie viele Jahre Europa jetzt schon als Immunsystem gegen Krieg funktio-nieren, und wie viele Generationen nach furchtbaren Jahrhunderten endlich ohne Gewalt-erfahrung aufwachsen konnten, nannte Berlins neuer Opfer-Beauftragter Roland Weber bei der feierlichen Entgegennahme seiner Ernennungsurkunde eine Zahl, die dann ein bisschen untergegangen ist. Erstaunlicherweise.
Er sagte: „77 916 Menschen in Berlin sind im vergangenen Jahr Opfer von Straftaten geworden, bei denen ihre körperliche Integrität verletzt wurde. Das ist ein komplett gefülltes Olympiastadion – mit Einzelschicksalen.“ – Man mag das gar nicht glauben. Die Sprecherin des Justizsenators bestätigt diese Zahl, das seien sogar nur die registrierten Fälle: Mord, Totschlag, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, sexueller Missbrauch von Kindern, schwere Körperverletzung, Raubüberfälle und räuberische Erpressungen.
Nach dem Mord auf dem Alexanderplatz hieß es dann wieder, wie es immer nach medien-relevanten Gewalttaten in Berlin heißt: Ja, furchtbar. Ganz schlimm. Aber, bitte, statistisch ist die Gewalt in Berlin immer noch nicht höher, als in anderen deutschen Großstädten.
Das ist falsch. Nur, wenn man mit Prozentzahlen hantiert,mag das stimmen. Die absoluten Zahlen aber erzählen erst die eigentliche Geschichte: 77 916 Menschen pro Jahr, denen in Berlin Gewalt angetan worden ist, das sind mehr Menschen, als in Gießen leben. Es wohnt also seit dem vorigen Jahr eine gewalttraumatisierte größere Kleinstadt in Berlin. Und wenn sich nicht bald etwas tut, kommt im nächsten Jahr noch einmal eine dazu, im übernächsten wieder. Da verändert sich etwas. Das ist die Katastrophe dieser Stadt.

Die Erfahrung von Gewalt bedeutet einen fundamentalen Bruch in der Entwicklungsge-schichte und im Selbstverständnis eines Menschen. Eine Grundgewissheit geht verloren. Es ist, als zöge man jemandem den Boden unter den Füßen weg. Opfer von Gewalttaten kämpfen jahrelang gegen die Traumatisierung, gegen Flashbacks, Ohnmachtsgefühle, Vermeidungsstrategien und Angstzustände.
Und was noch schlimmer ist:Wiederholte Traumatisierung durch Gewalt beschädigt im menschlichen Gehirn die Zentren, die für Mitleid, Hilfsbereitschaft und Empathiefähigkeit zuständig sind, sogar genetische Veränderungen werden da neuerdings nachgewiesen.
Jeder sechste Berliner Neuntklässler ist in den letzten zwölf Monaten schon einmal beraubt, geschlagen oder erpresst worden. Ein geradezu übliches Ritual an Berliner Sekundarschulen scheinen inzwischen Prügel zum Geburtstag zu sein, die sogenannten Geburtstagsschläge. In Berlins U- und S-Bahnen sitzen nach 22 Uhr Menschen mit diesem nach innen gerichteten Tu-mir-nichts-Kaninchenblick, den freie Menschen in einer freien Stadt eines freien Landes nicht haben sollten. Der Elektroschocker gehört hier zur städtischen Grundausstattung von Abend-Joggern, die Dose Pfefferspray in die Handtasche jeder Frau, die nach 22 Uhr noch unterwegs ist und schon mal nachgedacht hat.
Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist ein Grundrecht. Dieses Grundrecht ist sehr viel wichtiger als ein funktionierender, termingerecht oder auch nur irgendwann einmal eingeweihter Flughafen. Und auch das kann man von New York lernen:Wer abwartet, bis die Sicherheit in der Stadt vom politischen Gegner zum Wahlkampfthema gemacht wird, hat wirklich schon verloren. EVELYN ROLL

entnommen der Süddeutsche Zeitung Dienstag, 13. November 2012 Seite 11

2010-10-8 Publik-Forum

Blonde Engel

In Berlin leisten die Jesuiten vorbildliche Aufklärungsarbeit. Nicht so in Bonn.
Dort werden Übergriffe an Jungen verdrängt und vertuscht
Von Peter Otten und Thomas Seiterich

Klaus Mertes, Jesuit und Rektor des Berliner Canisiuskollegs, hatte Ende Januar den
Mut, lange Zeit totgeschwiegene sexuelle Gewalttaten von Priestern gegen Schüler an
die Öffentlichkeit zu bringen. Seither marschieren die deutschen Jesuiten bei der
schmerzhaften Aufklärungsarbeit voran. An den Jesuitenkollegs in Sankt Blasien und
Berlin beeilt man sich mit der Aufklärung der Fälle von sexuellem Missbrauch durch
Geistliche. In Bonn-Bad Godesberg jedoch, an dem von Jesuiten geleiteten Aloisiuskolleg (Ako) und in der Kolleg-nahen Jugendfreizeitarbeit Ako-Pro, gehen die Uhren anders. Dort wird verdrängt und vertuscht.
Seit Anfang Februar wurden in der Folge der Vorgänge am Berliner Canisiuskolleg auch Missbrauchsfälle am Aloisiuskolleg bekannt. Die vom Jesuitenorden eingesetzte Missbrauchsbeauftragte, die Rechtsanwältin Ursula Raue, nennt in ihrem 26-seitigen
»Abschlussbericht« vom 27. Mai fünf beschuldigte Täter-Patres am Aloisiuskolleg.
Über dreißig missbrauchte Kinder und Jugendliche seien deren Opfer. Raues Abschluss-bericht nennt ferner einen »aktuellen Mitarbeiter des Kollegs«. Gegen den Pädagogen K. sei – Stand Februar – bei der Staatsanwaltschaft Bonn ein Verfahren anhängig. Anfang Oktober sind es dann »mehrere Anzeigen«, so die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Staatsanwältin Silke Drosse. »In der zweiten Oktoberhälfte«, so Drosse, falle die Entscheidung, ob Anklage gegen den langjährigen Leiter der Freizeitarbeit erhoben werde. »Derzeit werden die Akten geprüft.«
Was wird K. vorgeworfen? Sexueller Missbrauch Ende der 1980er- und Anfang der
1990er-Jahre. Dagegen beteuert K. seine Unschuld und spricht von einem »Komplott«.
Mit Publik-Forum will er nicht sprechen.
Der Beschuldigte ist oder war für die Jesuiten doppelt tätig: Zum einen leitete er viele Jahre bis Mitte Juli dieses Jahres das Externat, so nennt sich das Freizeitprogramm für die Schüler im Ako. Außerdem leitet K. seit Mitte der 1990er-Jahre als Vorsitzender den Verein Ako-Pro-Seminar und dessen Freizeitarbeit.
Der Verein sei »schulnah«, erklärt der kommissarische Rektor des Aloisiuskollegs, Pater Ulrich Rabe. Sein Vorgänger, Pater Theo Schneider, gab den Rektor-Posten aufgrund von Vorwürfen auf, er habe vor den sexuellen Übergriffen die Augen verschlossen. Aussagewillige Ex-Schüler bedrohte Schneider mit Unterlassungs-klageforderungen in Höhe von mehreren Zehntausend Euro.
Vereinszweck von Ako-Pro ist laut Satzung »die jugendpflegerische und wissenschaftlich weiterbildende Arbeit; sie hat die Entwicklung des Jugendlichen zum mündigen Bürger zum Ziel …«. Vorsitzender kann laut Satzung nur ein Mitglied des Lehrerkollegiums, der Leitung des Kollegs oder der Ako-Internatsleitung werden. Der Beschuldigte K. ist – satzungsgemäß – nicht Angestellter des Vereins, sondern vermutlich der Jesuitenschule. Nach Auskunft des Vereins besuchen dort jährlich 5000 Kinder und Jugendliche Kurse. Darunter seien auch viele Teilnehmer aus anderen Bonner Schulen. Der Verein Ako-Pro sei in Bonn »eine große Nummer«, berichten Eltern.
Der Verein hat ein großes sportliches Angebot. Eine weitere wichtige Säule bildet die
vereinseigene Pfadfinderarbeit, das Scouting. Laut Ehemaligen gebe es dort rund
einhundert Aktive. »Verzicht wird zum Gewinn«, so lautet ihr Motto. »Ganz natürlich
entstehen Freundschaften, Beziehungen und Verantwortlichkeiten über Altersgrenzen
hinaus«, heißt es in der Selbstdarstellung.
Die Scouter-Idee sei auf den Beschuldigten K. hin ausgerichtet, sagen Ex-Mitglieder.
Als »charismatisch« beschreiben Eltern den Pädagogen; K. sei eine »Fokusperson«. Er
habe gegenüber den Kindern schlecht über deren Vater geredet und so versucht, Vertrauen aufzubauen und selbst als die bessere Alternative zu erscheinen. K. habe
eigentlich keine Grenze zwischen seiner beruflichen Tätigkeit und seinem Privatleben
gekannt. Jahrelang hätten Jugendliche immer wieder bei ihm zu Hause gewohnt,
wenn es Probleme mit den Eltern gab. Ein Ex-Scouter berichtet, K. habe ihn einmal
eingeladen, zu ihm ins Bett zu kommen, was er aber abgelehnt habe; Freunde von
ihm jedoch nicht. Er wisse von monatelangen sexuellen Übergriffen. »Viele Eltern,
der innere Kreis, können sich ein derartiges Vergehen jedoch nicht vorstellen«,
berichtet eine Mutter.
Nachdem ein zweites Opfer K. wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt hatte, beurlaubte die Ako-Leitung den Pädagogen Mitte Juli. »Bis die Vorwürfe geklärt sind«, teilte der kommissarische Rektor, Ulrich Rabe, damals mit. Bei dem Erstatter der Anzeige handele es sich um einen Mitarbeiter des Vereins. K. habe seinem Mitarbeiter nach der Anzeige
fristlos gekündigt. Nicht das Aloisiuskolleg habe den Mitarbeiter entlassen, sondern der Beschuldigte in seiner Funktion als Vereinsvorsitzender, betont Pater Rabe.
Betroffene im Umfeld des Aloisiuskollegs finden dies bizarr: Wie kann es sein, fragen
sie, dass die Jesuiten sich vor der Verantwortung drücken und den Beschuldigten einfach gewähren lassen? Was sagt die deutsche Ordensleitung dazu?
Diese Strategie des Wegduckens der Jesuiten kritisiert Jürgen Repschläger, Sprecher der Opfervereinigung Eckiger Tisch, im Schulausschuss der Stadt Bonn: Bei zwei Anzeigen gegen den Beschuldigten K. habe man erwarten können, dass der Verein Ako-Pro Seminar als pädagogische Einrichtung von sich aus die Stadt informiere – was unterblieben sei. Die Linie des Aloisiuskollegs sei offenkundig: Wir geben nur das zu, was wir zugeben müssen. Rektor Rabe dagegen erklärt, das Aloisiuskolleg habe keine Informationspflicht gegenüber dem Schulamt. Dies sei Sache des Vereins.
Zum Schuljahresbeginn teilt das Aloisiuskolleg mit, die zu Beginn der Sommerferien verfügte Beurlaubung des Beschuldigten K. halte man aufrecht. Er leite das Externat nicht mehr. Den Vorsitz im Verein Ako-Pro lasse er ruhen. Der Beschuldigte »nimmt an keinen freizeitpädagogischen Maßnahmen mit Kindern und Jugendlichen teil und versieht derzeit im Verein ausschließlich Verwaltungs- und Organisationsaufgaben«, sagt der Rektor der Bonner Presse.
Ungeachtet der Freistellung durch die Jesuiten hielt sich der Beschuldigte im September auf dem Aloisius-Schulgelände auf. Auf telefonische Nachfrage nach einem Gespräch mit ihm antwortet das Vereinssekretariat, K. sei »in einer Gruppenstunde«.
Im Vorwort des gedruckten Herbstprogramms des Ako-Pro e. V. zeichnet K. das Vorwort. Zugleich taucht der Mann auf als Kursleiter eines Zauberseminars sowie eines Väter-Kinder-Wochenendes. In der Online-Version des Herbstprogramms wurden die entsprechenden Angaben inzwischen geändert. Doch K. steht weiter als Vorsitzender im Impressum. Am 22. September lud der Beschuldigte zu einem Elternabend der Scouter-Eltern aufs Schulgelände ein. Rund dreißig Eltern kamen. In der Einladung schrieb er, die letzten Monate seien fürs Scouting »ungewohnt turbulent und belastend« gewesen. Doch es habe »viel Verständnis, uneingeschränkten Einsatz, Vertrauen und Loyalität« gegeben, dafür bedanke er sich herzlich: Und: »Der Ako-Pro und Scouting wird so weitergehen, wie wir es alle gewohnt sind.«
Ende Juli starb mit dem Bonner Jesuitenpater Ludger Stüper einer der Haupt-Missbrauchsverdächtigen im Ako. Er hatte den Beschuldigten in die Ako-Jugendarbeit
geholt, sozusagen als Nachfolger im Geiste. Stüper, ein in der ehemaligen Bundeshauptstadt weit bekannter Pädagoge, war in Regierungskreisen gern gesehen,
sammelte erfolgreich Spenden und brachte die Ako-Freizeitarbeit in Schwung. Er war
morgens mit den Jungen in der Dusche und pflegte ein besonderes »Hobby«. Der
Priester fotografierte mehr oder weniger nackte Schüler. »Blonde Engel«, solche Titel
gab Stüper seinen Bildern. Anwältin Raue sagt dazu: »Sehr erotische Fotos.« Sie
veranlasste im Jahr 2007, nachdem der Orden sie zur Missbrauchsbeauftragten
ernannt hatte, das Abhängen der Fotografien. Hatte sich jemals ein Bonner Jesuit an
Stüpers Knabenfotos gestört? Anscheinend nicht.
Als Anwältin Raue zu Stüper sagte, er arbeite in der Tradition des deutschsizilianischen
Päderastie-Fotografen Baron Wilhelm von Gloeden (1856-1931), »war der Pater stolz«, erinnert sich Raue. Sein Beuteschema waren schmale, wilde Knaben, erinnert sich die Anwältin, Jungen mit einer »Bedürftigkeit, die aus der Abwesenheit des Vaters herrührt«. Wer nicht diesem Muster entsprach, blieb unbelästigt.
Bei Stüpers Requiem am 27. Juli wird beschönigt. Sehr zum Ärger der Jesuiten außerhalb des Treibhauses Bonn. Unter den acht Priestern, die das Totenamt für Stüper feiern, ist mit dem ARD-Fernsehprediger und Domvikar Monsignore Stephan Wahl ein Mitarbeiter des Trierer Bischofs Stephan Ackermann. In einem offenen Brief kritisieren Opfervertreter: »Welche Schlüsse sollen die Opfer daraus ziehen, dass es sich bei Wahl
um den Leiter der strategischen Kommunikationsabteilung des Bischofs handelt, der
als Sonderbeauftragter der Bischofskonferenz für sexuellen Missbrauch Minderjähriger
zuständig ist?«

Kontakt: http://www.untersuchung-aloisiuskolleg.de
Quelle: Publik-Forum 19/2010, erschienen am 8.Oktober 2010

Über Diese Seite wurde eingerichtet von Christian Herwartz

Arbeiterpriester auf Rente Meine Webseiten: http://christianherwartz.wordpress.com Jesuit - http://www.jesuiten.org/jesuiten-in-deutschland.html geb. 1943 wohnhaft in Berlin Begleitet Übende bei Exerzitien auf der Straße siehe: strassenexerzitien.de, nacktesohlen.wordpress.com
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